Zur konkludenten Gestattung der Istbesteuerung (§ 20 UStG)

Hat ein Steuerpflichtiger einen hinreichend deutlichen Antrag auf Gestattung der Istbesteuerung (§ 20 UStG) beim FA gestellt, dann hat die antragsgemäße Festsetzung der Umsatzsteuer den Erklärungsinhalt, dass der Antrag genehmigt worden ist.

Ein hinreichend deutlicher Antrag auf Gestattung der Istbesteuerung (§ 20 UStG) liegt vor, wenn der Steuerpflichtige in den von ihm abgegebenen Voranmeldungen und Jahreserklärungen die Umsatzsteuer nach vereinnahmten Entgelten berechnet hat und dies für das FA erkennbar war.

BFH Urteil vom 18.11.2015 – XI R 38/14

Sachverhalt:

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) betrieb ab dem 1. September 2007 einen Gewerbebetrieb zur Erbringung von Handwerkerleistungen in der Rechtsform einer GbR. Ihre Gesellschafter waren M mit einer Beteiligung von 80 % und dessen Sohn N mit einer Beteiligung von 20 %.

Im „Fragebogen zur steuerlichen Erfassung” gab die Klägerin am 7. September 2007 gegenüber dem Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt –FA–) durch Ankreuzen folgende Erklärung ab: „Wir berechnen die Steuer nach vereinnahmten Entgelten. Wir beantragen hiermit die Istversteuerung.” Ihren Gesamtumsatz schätzte sie im Fragebogen auf „ca. 10.000 EUR” für das Jahr der Betriebseröffnung und „ca. 40.000 EUR” für das Folgejahr. Die nach Aufnahme des Betriebs ausgeführten Gesamtumsätze der Klägerin lagen jeweils unterhalb der in § 20 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) für eine Berechnung der Steuer nach vereinnahmten Entgelten bestimmten Höchstgrenzen.

Das FA beschied diesen Antrag der Klägerin auf Gestattung der „Istversteuerung” (zunächst) nicht.

Begründung:

Das FG ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Klägerin die Umsatzsteuer nach vereinbarten Entgelten zu berechnen hatte. Seine bisher getroffenen Feststellungen erlauben keine Entscheidung darüber, ob das FA der Klägerin die Berechnung der Steuer nach vereinnahmten Entgelten gestattet hat. Zudem hat es seine Ermessenserwägungen an die Stelle derer des FA gesetzt und damit die Grenzen der ihm durch § 102 FGO eingeräumten Überprüfungsbefugnis überschritten.

Die Umsatzsteuer entsteht bei der Berechnung der Steuer nach vereinbarten Entgelten, die gemäß § 16 Abs. 1 Satz 1 UStG den gesetzlichen Regelfall darstellt, für Lieferungen und sonstige Leistungen mit Ablauf des Voranmeldungszeitraums, in dem die Leistungen ausgeführt worden sind (§ 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a UStG –sog. Sollbesteuerung–). Bei der Besteuerung nach vereinnahmten Entgelten entsteht die Steuer dagegen mit Ablauf des Voranmeldungszeitraums, in dem die Entgelte vereinnahmt worden sind.

Das Finanzamt kann gemäß § 20 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 UStG a.F. auf Antrag gestatten, dass ein Unternehmer,

  1. dessen Gesamtumsatz (§ 19 Abs. 3 UStG) im vorangegangenen Kalenderjahr nicht mehr als 500.000 EUR betragen hat, oder
  2. der von der Verpflichtung, Bücher zu führen und auf Grund jährlicher Bestandsaufnahmen regelmäßig Abschlüsse zu machen, nach § 148 AO befreit ist, oder
  3. soweit er Umsätze aus einer Tätigkeit als Angehöriger eines freien Berufs i.S. des § 18 Abs. 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes ausführt,

die Steuer nicht nach den vereinbarten Entgelten (§ 16 Abs. 1 Satz 1 UStG), sondern nach den vereinnahmten Entgelten berechnet.

Gemäß § 20 Abs. 1 Satz 1 UStG a.F. ist für die Besteuerung nach vereinnahmten Entgelten anstelle der Regelbesteuerung nach vereinbarten Entgelten mithin ein Antrag notwendig, auf Grund dessen das FA nach pflichtgemäßem Ermessen die Besteuerung nach vereinnahmten Entgelten gestattet haben muss. Nach der Rechtsprechung des BFH handelt es sich bei der Gestattung nach § 20 UStG durch das FA um den Erlass eines begünstigenden Ermessens-Verwaltungsaktes i.S. der §§ 130, 131 AO. Dieser Verwaltungsakt muss nicht ausdrücklich, sondern kann auch stillschweigend bekanntgegeben werden. Da die Gestattung einer Besteuerung nach vereinnahmten Entgelten (§ 20 UStG) und die hierauf beruhende Umsatzsteuerfestsetzung (§ 155 AO) zwei verschiedene Verfahren betreffen, kann die Umsatzsteuerfestsetzung nur dann als konkludente Gestattung der Besteuerung nach vereinnahmten Entgelten ausgelegt werden, wenn mit ihr nach außen erkennbar auch eine Entscheidung über den entsprechenden Antrag getroffen wurde. Hieran dürfen aber keine übersteigerten Anforderungen gestellt werden. Vielmehr ist der Empfängerhorizont der Beteiligten entscheidend. Hat ein Steuerpflichtiger einen konkludenten Antrag auf Genehmigung der Istbesteuerung beim FA gestellt, dann hat die antragsgemäße Festsetzung der Umsatzsteuer den Erklärungsinhalt, dass der Antrag genehmigt worden ist.

Das FG hat zwar zutreffend entschieden, dass die Klägerin nicht allein deshalb von einer Gestattung durch das FA ausgehen konnte, weil sie im „Fragebogen zur steuerlichen Erfassung”, der von der Finanzverwaltung eigens hierfür vorgesehen ist, einen eindeutigen Antrag gestellt.

Es hat jedoch sodann seine Prüfung beendet und keine Feststellungen dazu getroffen, ob –soweit keine ausdrückliche Gestattung erfolgt ist– die Klägerin auf Grund des Verhaltens des FA in den Besteuerungszeiträumen 2007 bis 2009 von einer konkludenten Gestattung ausgehen konnte. Das wäre dann der Fall, wenn die Klägerin in den von ihr in diesen Besteuerungszeiträumen abgegebenen Voranmeldungen und Jahreserklärungen die Umsatzsteuer nach vereinnahmten Entgelten berechnet hat und dies für das FA erkennbar war. Anhaltspunkte hierfür könnten sich nach dem Vorbringen der Klägerin insbesondere aus den bislang nicht beigezogenen Feststellungsakten ergeben.

Auch soweit das FG entschieden hat, die Klägerin habe keinen Anspruch auf Gestattung der Besteuerung nach vereinnahmten Entgelten, kann sein Urteil keinen Bestand haben. Liegen die Voraussetzungen des § 20 Abs. 1 Satz 1 UStG a.F. vor, „kann” das Finanzamt die Istbesteuerung gestatten. Die Gestattung wird somit in das pflichtgemäße Ermessen (§ 5 AO) des Finanzamts.

Dies hat das FG nicht beachtet und nach den Ausführungen in den Entscheidungsgründen im Streitfall eigene Ermessenserwägungen angestellt. So wird dort formuliert, es „muss der Senat” für das Streitjahr 2010 von einer Gefährdung des Steueranspruchs ausgehen. Ferner lässt die Formulierung, „[s]chon in der insofern über längere Dauer zu erwartenden Zinsbeeinträchtigung sieht das Gericht einen hinreichenden Grund für die Versagung der Gestattung”, erkennen, dass das FG eigene Ermessenserwägungen angestellt und nicht nur die des FA überprüft hat. Auf die Zinsbeeinträchtigung hat das FA weder in der Einspruchsentscheidung vom 21. Oktober 2013 abgestellt, noch hat es dies im finanzgerichtlichen Verfahren vorgetragen.

Zum Nachweis der Voraussetzungen für eine innergemeinschaftliche Lieferung

Die Zulassung eines Fahrzeugs im Ausland reicht allein nicht aus, um nachzuweisen, dass die Voraussetzungen einer steuerfreien innergemeinschaftlichen Lieferung vorliegen.

BFH Beschluss vom 03.02.2016 – XI B 53/15

Sachverhalt:

Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) handelte im Besteuerungszeitraum 2006 (Streitjahr) mit Kfz. Er erklärte u.a. die Lieferungen von drei Kfz (Lieferungen e, f und g) als steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferungen i.S. des § 4 Nr. 1 Buchst. b i.V.m. § 6a des Umsatzsteuergesetzes (UStG).

Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt –FA–) sah nach Durchführung einer Umsatzsteuer-Sonderprüfung u.a. diese drei Lieferungen als steuerpflichtig an und erhöhte deshalb die Umsatzsteuer in einem geänderten Umsatzsteuerbescheid für 2006.

Begründung:

Aus den Entscheidungsgründen des FG-Urteils ergibt sich –insbesondere unter Berücksichtigung der unmittelbar vorangehenden Ausführungen zu den für die übrigen Fahrzeuge vorgelegten Speditionserklärungen– hinreichend deutlich, dass die entsprechende Speditionserklärung zum Fahrzeug nicht alle Voraussetzungen in § 17a Abs. 4, § 10 Abs. 1 UStDV erfüllt und das FG angesichts dieser Mängel und des Fehlens anderer Nachweise (z.B. einer Zulassung in Spanien) nicht davon überzeugt war, dass das Fahrzeug tatsächlich nach Spanien gelangt ist. Ob diese Schlussfolgerung aufgrund der vorgelegten Unterlagen zutreffend ist, ist eine Frage der materiellen Richtigkeit des FG-Urteils. Die Rüge fehlerhafter Rechtsanwendung vermag indes die Zulassung der Revision gemäß § 115 Abs. 2 FGO grundsätzlich nicht zu begründen.

Bezüglich der Lieferung  rügt der Kläger, das FG habe pflichtwidrig –trotz des Hinweises des Klägers auf das europäische Kfz-Zulassungs- und Auskunftssystem– nicht aufgeklärt, ob das Fahrzeug in Spanien zugelassen worden sei. Mit den Ausführungen in der Beschwerdebegründung, das FG habe „keinerlei eigene Untersuchungen” vorgenommen, wird nicht dargelegt, weshalb sich dem FG weitere Ermittlungen hätten aufdrängen müssen. Daneben legt der Kläger nicht dar, zu welchem Ergebnis die Aufnahme des –ebenfalls nicht bezeichneten– Beweises geführt hätte.

Im Übrigen reicht nach ständiger Rechtsprechung des BFH die Zulassung eines Fahrzeugs im Ausland alleine nicht aus, um nachzuweisen, dass die Voraussetzungen einer steuerfreien innergemeinschaftlichen Lieferung vorliegen. Bezüglich der Lieferungen e und f rügt der Kläger, das FG habe seine Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung verletzt, weil es dem Vortrag des Klägers nicht nachgegangen sei, das Feld 22 „Unterschrift und Stempel des Absenders”) sei wegen der Ortsverschiedenheit des Büros des Klägers von dem Büro des Spediteurs nicht ausgefüllt worden und das FG sei pflichtwidrig nicht der Frage nachgegangen, wer die Unterschrift im Feld 24 „Unterschrift und Stempel des Empfängers”) geleistet habe. Es fehlen jedenfalls Ausführungen dazu, welche Beweise das FG mit welchem Ergebnis noch hätte erheben sollen und inwiefern die Beweiserhebung auf der Grundlage des materiell-rechtlichen Standpunkts des FG zu einer anderen Entscheidung hätte führen können.

Das FG hat seine Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung auch nicht dadurch verletzt, dass es bezüglich der Lieferungen e und f trotz des Beweisantrags des Klägers auf S. 2 des Schriftsatzes vom 9. April 2014 davon abgesehen hat, einen Zeugen der den Transport durchführenden Spedition zur Ablieferung der Fahrzeuge in Spanien zu vernehmen. Die Erhebung dieses Beweises war nicht notwendig, denn das FG ging erkennbar davon aus, dass Fahrzeuge tatsächlich nach Spanien gelangt sind. Es verweist auf S. 17 des Urteils auf die Zulassung der Fahrzeuge in Spanien, die auch nach Auffassung des FG (vgl. S. 16 des Urteils) eine Vorführung der Fahrzeuge beim örtlichen spanischen TÜV voraussetzt. Jedoch war es nicht mit der erforderlichen Sicherheit davon überzeugt, dass der Transport auch im Rahmen der Lieferung des Klägers erfolgt ist. Ob der Zeugenbeweis überhaupt ein taugliches Beweismittel wäre, bedarf deshalb hier keiner Entscheidung.

Mit seinem Beschwerdevorbringen rügt der Kläger im Kern, dass das FG aufgrund der von ihm vorgelegten Dokumente für alle drei Fahrzeuge hätte entscheiden müssen, dass die Voraussetzungen einer steuerfreien innergemeinschaftlichen Lieferung objektiv zweifelsfrei vorliegen. Damit legt der Kläger keinen Revisionsgrund dar, sondern stellt die materielle Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung in Frage.

Vorsteuerausschluss bei Erwerb eines Wohnhauses, das zu mehr als 90 % privat genutzt wird; unternehmerische Mindestnutzung

  • 15 Abs. 1 Satz 2 UStG beruht auf Art. 1 der Entscheidung des Rates vom 19. November 2004 (2004/817/EG), der Deutschland ermächtigt, abweichend von Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG Ausgaben für solche Gegenstände und Dienstleistungen vom Abzug der Mehrwertsteuer auszuschließen, die zu mehr als 90 % für private Zwecke des Steuerpflichtigen oder seines Personals oder allgemein für unternehmensfremde Zwecke genutzt werden.

Der Vorlagebeschluss betrifft nicht eine zu mehr als 90 % für private Zwecke des Steuerpflichtigen genutztes Wohnhaus, sondern allein die Frage, ob diese Ermächtigung über ihren Wortlaut hinaus auch für den Vorsteuerausschluss in Bezug auf nichtwirtschaftliche Tätigkeiten des Unternehmens gilt.

BFH Beschluss vom 01.03.2016 XI B 51/15

Sachverhalt:

Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin), eine GmbH & Co. KG, betrieb in den Jahren 2006 und 2007 (Streitjahre) u.a. einen Gewerbebetrieb. Das streitbefangene, in den Streitjahren auf ihrem Betriebsgelände errichtete „Betriebsleiterwohnhaus”, ein Einfamilienhaus mit Erd- und Dachgeschoss und einer Gesamtwohnfläche von 234,89 qm, wurde von den Geschäftsführern der Komplementär-GmbH –X und deren Lebensgefährten Y– zu eigenen Wohnzwecken genutzt. Zur Wohnfläche gehören ein Gästezimmer (15,44 qm), ein Gäste-WC (3,71 qm) und eine Diele, über die man zu den Gästeräumen und zum übrigen Gebäudebereich gelangt.

Die Klägerin ordnete das Betriebsleiterwohnhaus –ausgehend von einer hälftigen unternehmerischen Nutzung– vollständig ihrem Unternehmen zu und machte den vollen Vorsteuerabzug aus den Herstellungskosten des Gebäudes sowie aus denen einer Kläranlage, eines Bohrbrunnens und eines Blockheizkraftwerks, die auch anderen –unstreitig dem Unternehmen zugeordneten– Gebäuden dienten, sowie aus den Anschaffungskosten einer Einbauküche geltend.

Nach einer Betriebsprüfung vertrat der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt –FA–) die Auffassung, das Betriebsleiterwohnhaus könne, da es zu weniger als 10 % unternehmerisch genutzt werde, nicht dem Unternehmen zugeordnet werden. Das FA ließ in den Änderungsbescheiden über Umsatzsteuer für 2006 und 2007 vom 3. März 2011 die Vorsteuer aus den Herstellungskosten des Betriebsleiterwohnhauses sowie diesbezüglich anteilig (zu jeweils 25 %) der Kläranlage, des Bohrbrunnens und des Blockheizkraftwerks und aus den Anschaffungskosten der Einbauküche nicht zum Abzug zu.

Sie führt in ihrer Beschwerdebegründung als Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung an, „ob die Bestimmungen zum Ausschluss des Vorsteuerabzugs gem. § 15 Abs. 1a UStG i.V.m. § 12 EStG und die Auffassung des Finanzgerichts Münster, dass die Vorschrift des § 15 Abs. 1a UStG nicht EU-rechtswidrig sowie die in § 15 Abs. 1 Satz 2 UStG genannte 10 %-Grenze EU-rechtskonform sei sowie eines sich daraus ergebenden Ausschlusses des Vorsteuerabzugs zu versagen sei”.

Die diesbezüglichen Ausführungen der Klägerin betreffen im Wesentlichen die Frage der Vereinbarkeit des § 15 Abs. 1a UStG i.V.m. § 12 EStG mit Unionsrecht, während sie die Frage des Vorsteuerausschlusses in Bezug auf nichtwirtschaftliche Tätigkeiten nicht betrifft, sondern das nach den Feststellungen des FG zu mehr als 90 % zu eigenen Wohnzwecken genutzte Betriebsleiterwohnhaus. Insoweit stellt der BFH im Leitsatz seines Beschlusses, zum Vorsteuerausschluss ermächtigt, wenn –wie hier– ein Gegenstand zu mehr als 90 % für private Zwecke des Steuerpflichtigen oder seines Personals oder allgemein für unternehmensfremde Zwecke genutzt wird.

Ferner sucht die Klägerin die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache damit zu begründen, das FG habe „die sog. Leerstandszeiten für eine unternehmerische Nutzung bei der Berechnung der unternehmerischen Nutzung nicht unberücksichtigt gelassen”, was jedoch geboten gewesen sei, „da solche Zeiten nach der Rechtsprechung zu dem vergleichbaren Sachverhalt bei sog. Ferienwohnungen nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht berücksichtigt werden dürfen”.

Vorsteuerabzug aus Dauerschuldverhältnissen

Bei Dauerschuldverhältnissen erfüllt ein Vertrag nur dann die Funktion einer Rechnung, wenn in dem Vertrag die Umsatzsteuer offen ausgewiesen ist und zudem ergänzende Zahlungsbelege vorgelegt werden, aus denen sich die Abrechnung für einen bestimmten Zeitraum ergibt.

Die Rechtsfrage, wer bei einer Kommanditgesellschaft auf Aktien (KGaA) die Feststellungslast für die den Vorsteuerabzug begründenden Tatsachen trägt, ist nicht von grundsätzlicher Bedeutung.

BFH Beschluss vom 03.02.2016 – V B 35/15 BFH/NV 2016, 794

Begründung:

Die Beschwerde ist unbegründet. Im Ergebnis hat das Finanzgericht (FG) das rechtliche Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes, § 96 Abs. 2 FGO) nicht dadurch verletzt, dass es davon ausgegangen ist, der Vorsteuerabzug für das Streitjahr 2009 aus der Tätigkeitsvergütung des Komplementärs sei mangels Vorlage weiterer Rechnungen zu versagen, ohne sich mit dem Einwand der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) auseinanderzusetzen, dass es bei Dauerleistungen keiner Vorlage weiterer Rechnungen bedürfe.

Dies ist zwar zutreffend. Doch ist die Vorentscheidung wegen eines Verfahrensfehlers nicht aufzuheben, wenn kein anderes Ergebnis in Betracht kommt. Dies ist der Fall; denn die Versagung des Vorsteuerabzugs ist im Ergebnis zutreffend, weil auch bei einem Vertrag über ein Dauerschuldverhältnis, in dem der monatliche Entgeltbetrag unter Angabe eines Umsatzsteuerbetrags vereinbart wird, erforderlich ist, dass ergänzende Zahlungsbelege vorgelegt werden, aus denen sich eine Abrechnung für einen bestimmten Zeitraum ergibt Nur dann werden Vertrag und Zahlungsbeleg der Funktion einer Rechnung gerecht.

Im Übrigen scheitert ein Vorsteuerabzug nicht nur an der Vorlage ergänzender Zahlungsbelege, sondern auch an einem ausreichenden Ausweis der Umsatzsteuer im Dauerleistungsvertrag vom 24. September 2007. Danach soll neben dem Nettogehalt die „jeweils gültige gesetzliche Umsatzsteuer” geschuldet werden, was nicht für die erforderliche Ausweisung des auf das Entgelt entfallenden „konkreten” Steuerbetrags genügt (§ 14 Abs. 4 Nr. 8 des Umsatzsteuergesetzes).

Das FG hat den Vorsteuerabzug aus den geltend gemachten Rechts- und Beratungskosten trotz der vorgelegten Beratungsrechnungen versagt, weil die Klägerin keinen Zusammenhang dieser Kosten mit einer wirtschaftlichen Tätigkeit substantiiert dargelegt habe. Denn die Klägerin trage die Feststellungslast für den begehrten Vorsteuerabzug. Es sei aber zweifelhaft, ob sie die behinderten Menschen nicht für ein ernsthaft betriebenes wirtschaftliches Projekt, sondern allein deshalb angestellt habe, um einen Teil der für die Arbeitnehmer erschlichenen Fördergelder für sich abzuzweigen. Dies folgert das FG aus der Verurteilung des Geschäftsführers der Klägerin zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe wegen Betruges, der darin bestehe, „Fördermittel von 106.500 EUR erschlichen” zu haben (FG-Urteil S. 11). An Feststellungen des Strafgerichtes darüber, ob es sich nur um eine Scheinaktivität handele, fehle es allerdings, weil es das Verfahren nach § 154 der Strafprozessordnung (StPO) aus prozessökonomischen Gründen eingestellt habe (FG-Urteil S. 5).

Zwar verstößt die Feststellung über die Erschleichung von Fördermitteln gegen den klaren Inhalt der Akten, weil das Landgericht den Geschäftsführer der Klägerin nicht wegen Betrugs zu Lasten der Bundesrepublik Deutschland wegen Erschleichung von Fördermitteln, sondern wegen Betruges zu Lasten der eingestellten behinderten Arbeitnehmer verurteilt hat, weil der Geschäftsführer die Arbeitnehmer zu einem teilweisen Barlohnverzicht gegen zusätzliche Überlassung von Bezugsrechten der GmbH und Co. KGaA überredete, die aber wirtschaftlich wertlos waren.

Gleichwohl kann ausgeschlossen werden, dass das FG ohne diesen Irrtum über die Person des Geschädigten zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre, weil es die Versagung des Vorsteuerabzugs aus Zweifeln über die wirtschaftliche Tätigkeit der Klägerin hergeleitet hat und diese zu Recht auch aus dem Urteil des Strafgerichtes herleitet, in dem es zur Einstellung des Strafverfahrens wegen Umsatzsteuerhinterziehung heißt:

„Nach wie vor besteht der Verdacht, dass es sich bei diesem Projekt um bloße Scheinaktivitäten handelt, mittels derer sich der Angeklagte in betrügerischer Absicht Fördermittel aus öffentlicher Hand erschleichen wollte. Die Kammer ist diesem Verdacht nicht weiter nachgegangen, weil insofern das Verfahren nach Maßgabe des § 154 StPO eingestellt wurde.”

Keine Steuerfreiheit von Personalgestellungsleistungen

Entgeltliche Personalgestellungen sind keine im sozialen Bereich erbrachten Gemeinwohldienstleistungen i.S.d. Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL.

BFH Urteil vom 14.01.2016 – V R 56 /14 BFH/NV 2016, 792

Sachverhalt:

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist ein eingetragener und als gemeinnützig anerkannter Verein, der in den Streitjahren (2008 bis 2010) Mitglied eines anerkannten Verbands der freien Wohlfahrtspflege war. Satzungsmäßiger Zweck des Klägers war, „Drogengefährdeten und -abhängigen bei der Bewältigung ihrer Probleme zu helfen”.

Aufgrund eines Ende 2007 mit einer Körperschaft des öffentlichen Rechts (Entleiher) geschlossenen Personalabordnungsvertrags verpflichtete sich der Kläger, dem Entleiher eine seiner Arbeitnehmerinnen zur inhaltlichen und fachlichen Koordinierung eines vom Entleiher initiierten Sozialfürsorgeprojekts (selektive Suchtprävention) für den Streitzeitraum zu überlassen. Dabei blieb das Arbeitsverhältnis zwischen dem Kläger und der Arbeitnehmerin –ungeachtet der Überlassung an den Entleiher– bestehen. Der Entleiher war aber berechtigt, der Arbeitnehmerin fachliche Weisungen zu erteilen und deren Arbeitsausführung zu überwachen. Ihr Arbeitslohn wurde weiterhin vom Kläger bezahlt; dieser hatte jedoch für die Personalüberlassung gegenüber dem Entleiher einen vertraglichen Anspruch auf Aufwendungsersatz in Höhe der tatsächlich entstandenen Kosten.

Das vom Entleiher initiierte Sozialfürsorgeprojekt zielte darauf ab, Jugendlichen, die erstmals mit Suchtmitteln in Berührung gerieten, Maßnahmen der Frühintervention anzubieten. Dabei sollte die entliehene Arbeitnehmerin als Projektleiterin das Projekt des Entleihers umsetzen, weiterentwickeln und interessierten Organisationen vorstellen. Die Arbeitnehmerin hatte vor der Personalüberlassungsmaßnahme bei dem Kläger besondere Kenntnisse zum inhaltlichen Bereich dieses Projekts gesammelt, dieses insbesondere mitentwickelt.

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt –FA–) setzte für die entgeltliche Personalgestellung Umsatzsteuer für die Streitjahre fest. Eine Steuerbefreiung komme nicht in Betracht.

Begründung:

Die Revision ist begründet. Das Urteil ist aufzuheben und die Klage abzuweisen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung –FGO–). Zu Unrecht hat das FG entschieden, dass die entgeltliche Personalgestellung des Klägers nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL steuerfrei ist.

Die Personalgestellung gegen Aufwendungsersatz ist ein steuerbarer Umsatz i.S. des § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Umsatzsteuergesetzes –UStG–Zu Recht geht das FG davon aus, dass die Personalgestellungsleistung nicht nach § 4 Nr. 18 Satz 1 UStG steuerfrei ist.

Steuerfrei sind danach die Leistungen der amtlich anerkannten Verbände der freien Wohlfahrtspflege und der der freien Wohlfahrtspflege dienenden Körperschaften […], die einem Wohlfahrtsverband als Mitglied angeschlossen sind, wenn […] die Leistungen unmittelbar dem nach der Satzung […] begünstigten Personenkreis zugutekommen […]. Ungeachtet dessen, dass der Kläger als Mitglied in einem nach § 23 Nr. 1 der Umsatzsteuer-Durchführungsverordnung amtlich anerkannten Verband der freien Wohlfahrtspflege zum begünstigten Personenkreis gehört, hat er durch die Personalgestellung keine Leistungen erbracht, die unmittelbar dem nach seiner Satzung begünstigten Personenkreis zugutegekommen sind (§ 4 Nr. 18 Satz 1 Buchst. b UStG).

Das Merkmal der Unmittelbarkeit ist leistungsbezogen, d.h. die Leistung selbst muss dem nach der Satzung begünstigten Personenkreis unmittelbar zugutekommen. Nicht ausreichend ist, dass die Leistung lediglich als Vorleistung in eine vom Leistungsempfänger –hier Entleiher– an den begünstigten Personenkreis erst noch zu erbringende Leistung eingeht. Mit der Personalgestellung unterstützte der Kläger nicht unmittelbar die nach der Satzung des Klägers begünstigten Personen (drogengefährdete Jugendliche). Vielmehr erbrachte er im Streitzeitraum sonstige Leistungen an den Entleiher, die den begünstigten Personen allenfalls mittelbar zugutegekommen sind.

Nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL (und der wortlautidentischen Vorgängerbestimmung des Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG) befreien die Mitgliedstaaten folgende Umsätze von der Steuer: „eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistungen und Lieferungen von Gegenständen, einschließlich derjenigen, die durch Altenheime, Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder andere von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen bewirkt werden”.

Entgeltliche Personalgestellungen stellen als solche keine im sozialen Bereich erbrachten Gemeinwohldienstleistungen dar und sind somit keine „eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundenen Umsätze” i.S. von Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL (EuGH-Urteil Go fair-Zeitarbeit, EU:C:2015:164, Rz 28). Dies gilt auch dann, wenn die aufgrund der Gestellung auszuführende Tätigkeit als Leistung der Sozialfürsorge zu charakterisieren ist und die Gestellung an eine Einrichtung mit sozialem Charakter oder eine Einrichtung des öffentlichen Rechts erbracht wird (EuGH-Urteil Go fair-Zeitarbeit, EU:C:2015:164, Rz 28). Für den erkennenden Senat bestehen insoweit keine Zweifel an der zutreffenden Auslegung des Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL.

Das FG-Urteil geht von anderen Grundsätzen aus und ist daher aufzuheben. Nachdem Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL auf Personalgestellungsleistungen nicht anzuwenden ist, lässt sich eine Steuerbefreiung auch nicht aus der früheren EuGH-Rechtsprechung zu Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. i und g der Richtlinie 77/388/EWG herleiten.

Ermäßigter Steuersatz für Stadtrundfahrten im nachträglich genehmigten Linienverkehr

Der ermäßigte Steuersatz nach § 12 Abs. 2 Nr. 10 UStG kommt auch dann in Betracht, wenn die nach dem Personenbeförderungsgesetz erforderliche Genehmigung mit Kraftfahrzeugen im Linienverkehr rückwirkend erteilt wird.

BFH Urteil vom 18.11.2015 – XI 32/14 BFH/NV 2016, 789

Sachverhalt:

Die vormals dafür zuständige Senatsverwaltung erteilte der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), einer GmbH & Co. KG, am 28. März 2000 die bis zum 30. März 2005 befristete Genehmigung, in … sog. „Open-Door-Stadtrundfahrten” (Stadtrundfahrten), bei denen die Fahrgäste an verschiedenen über das Stadtgebiet verteilten Haltestellen ein- und aussteigen können, durchzuführen.

Noch am selben Tag beantragte die Klägerin, die ihr erteilte Genehmigung auf die „… OHG” (B), die heutige „… GmbH & Co. KG”, zu übertragen. Dem kam die Senatsverwaltung mit Verfügung vom 19. Juli 2000 nach. Am 23. März 2005 genehmigte die nunmehr zuständige Behörde (Landesamt) der B (erneut) die Durchführung von Stadtrundfahrten für den Zeitraum vom 1. April 2005 bis 31. März 2013.

Die Klägerin führte (ab dem 1. Januar 2002 und auch) in den Streitjahren 2005 bis 2011 die in Rede stehenden Stadtrundfahrten durch und unterwarf die Umsätze in den entsprechenden Umsatzsteuererklärungen dem ermäßigten Steuersatz.

Begründung:

Das FG hat zu Unrecht entschieden, dass die von der Klägerin ausgeführten Beförderungsumsätze nicht dem ermäßigten Steuersatz unterliegen. Die Vorentscheidung ist, soweit das FG über die angefochtenen Umsatzsteuerbescheide für die Streitjahre 2010 und 2011 entschieden hat, bereits aus verfahrensrechtlichen Gründen aufzuheben, weil ihr nach Ergehen der die Umsatzsteuer für 2010 und 2011 betreffenden Änderungsbescheide vom 18. November 2014 nicht mehr existierende Bescheide zugrunde liegen.

Die Steuer betrug nach § 12 Abs. 1 UStG für jeden steuerpflichtigen Umsatz in den Streitjahren 2005 und 2006 16 % und in den Streitjahren 2007 bis 2011 19 % der Bemessungsgrundlage.

Beförderungen von Personen … im genehmigten Linienverkehr mit Kraftfahrzeugen … aa) innerhalb einer Gemeinde oder bb) wenn die Beförderungsstrecke nicht mehr als 50 Kilometer beträgt”.

Diese Voraussetzungen der selektiven Anwendung des ermäßigten Steuersatzes sind hinsichtlich der Steuersatzermäßigung nach § 12 Abs. 2 Nr. 10 Buchst. b UStG a.F. erfüllt. Denn die nur für die Personenbeförderung im genehmigten Linienverkehr geltende Betriebs- und Beförderungspflicht nach §§ 21, 22 PBefG ist geeignet, unterschiedliche Leistungen zu kennzeichnen, so dass diese Tätigkeit einen konkreten und spezifischen Aspekt der genannten Kategorie darstellen kann. Die selektive Anwendung der Ermächtigung zur Einführung eines ermäßigten Steuersatzes hinsichtlich der begünstigten Personenbeförderungen im genehmigten Linienverkehr mit Kraftfahrzeugen verstößt zudem nicht gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität. Aus maßgeblicher Sicht des Durchschnittsverbrauchers ist ein Unterschied zwischen Stadtrundfahrten, die im genehmigten Linienverkehr mit Betriebs- und Beförderungspflichten und solchen, die ohne diese Pflichten nicht im genehmigten Linienverkehr durchgeführt werden, gegeben.

Die Klägerin hat in den Streitjahren dem ermäßigten Steuersatz unterliegende Beförderungsleistungen i.S. von § 12 Abs. 2 Nr. 10 Buchst. b UStG a.F. ausgeführt. Die streitbefangenen Stadtrundfahrten dienten der Beförderung von Personen. Denn die Klägerin hat Personen mit Kraftfahrzeugen als Beförderungsmittel fortbewegt Die Steuersatzermäßigung nach § 12 Abs. 2 Nr. 10 Buchst. b UStG a.F. setzte ferner eine Personenbeförderung „im genehmigten Linienverkehr” im verkehrsrechtlichen Sinne voraus. Auch diese Voraussetzung ist im Streitfall erfüllt. Die Klägerin hat die in Rede stehenden Stadtrundfahrten im genehmigten Linienverkehr ausgeführt. Denn die zugunsten der Klägerin gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 3 i.V.m. § 43 PBefG erteilte Genehmigung des Landesamts vom 19. November 2012 zur Übertragung der Betriebsführung des bereits der B genehmigten Linienverkehrs wirkt auf die Streitjahre zurück.

Steuersatz bei Überlassung digitaler oder elektronischer Sprachwerke im Sinne des UrhG

Digitale oder elektronische Sprachwerke (E-Books) sind keine Bücher i.S. von § 12 Abs. 2 Nr. 2 UStG i.V.m. Anlage 2 Nr. 49 Buchst. a zum UStG.

Die Einräumung, Übertragung und Wahrnehmung von Rechten, die sich aus dem UrhG ergeben (§ 12 Abs. 2 Nr. 7 Buchst. c UStG), erfassen nicht „elektronisch erbrachte Dienstleistungen”.

BFH Urteil vom 03.12.2015 – V R 43/13 BFH/NV 2016, 517

Sachverhalt:

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), eine GmbH, erbrachte im Streitjahr (2011) Leistungen im Zusammenhang mit der Entwicklung und dem Vertrieb von Bibliotheken in digitalisierter Form (virtuelle Bibliotheken). Ihr Ziel war es, Bibliotheksnutzern Medien einer Bibliothek (z.B. Bücher) in digitalisierter Form räumlich und zeitlich unabhängig über das Internet zur Verfügung zu stellen. Dazu ließ sich die Klägerin Nutzungsrechte an geistig geschützten Werken einräumen. Diese berechtigten sie, die Werke zu digitalisieren, sie auf ihrer technischen Plattform (Servern) in handelsüblichen Formaten zu speichern und über das

In den monatlichen Umsatzsteuervoranmeldungen für 2011 unterwarf die Klägerin die Umsätze aus der Bereitstellung der digitalisierten Inhalte aufgrund der Bestellungen durch die Bibliotheken dem ermäßigten Steuersatz (7 %).

Begründung:

Die Revision ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 und Abs. 4 FGO). Das FG hat im Ergebnis zu Recht entschieden, dass die Leistungen der Klägerin nicht dem ermäßigten Steuersatz unterliegen.

Die Leistungen der Klägerin unterliegen nicht dem ermäßigten Steuersatz nach § 12 Abs. 2 Nr. 2 UStG i.V.m. Anlage 2 Nr. 49 Buchst. a UStG. Danach ermäßigt sich die Steuer auf 7 % für die Vermietung der in der Anlage 2 bezeichneten Gegenstände. Nach Nr. 49 dieser Anlage gehören hierzu auch „Bücher”. Digitale (elektronische) Sprachwerke (E-Books) sind aber keine Bücher.

Die Steuerermäßigung für die Vermietung von Büchern beruht unionsrechtlich auf Art. 98 der Richtlinie des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem 2006/112/EG (MwStSystRL). Danach können die Mitgliedstaaten einen oder zwei ermäßigte Steuersätze anwenden (Abs. 1), allerdings nur auf die Lieferungen von Gegenständen und die Dienstleistungen der in Anhang III genannten Kategorien (Abs. 2). Nach Anhang III Nr. 6 MwStSystRL können die ermäßigten Steuersätze i.S. des Art. 98 MwStSystRL auf die Lieferung von Büchern auf jeglichen physischen Trägern, einschließlich des Verleihs durch Büchereien, angewandt werden. Die ermäßigten Steuersätze sind nicht anwendbar auf elektronisch erbrachte Dienstleistungen (Abs. 2). Das Überlassen elektronischer Bücher ist eine elektronisch erbrachte Dienstleistung i.S. des Art. 98 Abs. 2 Unterabs. 2 MwStSystRL. Zudem fehlt es an dem von Anhang III Nr. 6 MwStSystRL vorausgesetzten physischen Träger. Die Mitgliedstaaten sind deshalb nicht ermächtigt, einen ermäßigten Steuersatz auf die Lieferung von digitalen oder elektronischen Büchern anzuwenden.

Dementsprechend ist § 12 Abs. 2 Nr. 2 UStG i.V.m. Anlage 2 Nr. 49 Buchst. a UStG richtlinienkonform einschränkend auszulegen. Das Tatbestandsmerkmal „Bücher” setzt einen physischen Träger voraus, auf dem das Buch materialisiert ist; digitale oder elektronische Sprachwerke fallen nicht unter die Steuerermäßigung. Die Einschränkung des Begriffes „Bücher” auf Schriftwerke, die auf einem physischen Träger materialisiert sind, ist mit dem Wortlaut der Norm vereinbar. Bei der Einführung der Steuerermäßigung für „Bücher” waren nur Bücher in Papierform, also solche auf einem physischen Träger, im Handel. Der Wortlaut der Norm zwingt deshalb nicht dazu, aufgrund einer technischen Entwicklung neue Erscheinungsformen von Schriftwerken unter diesen Begriff zu fassen.

Die Leistungen der Klägerin unterliegen als elektronische Dienstleistungen auch nicht der Steuerermäßigung nach § 12 Abs. 2 Nr. 7 Buchst. c UStG. Wenn sich danach die Steuer auf 7 % ermäßigt für die Einräumung, Übertragung und Wahrnehmung von Rechten, die sich aus dem UrhG ergeben, so gilt dies nicht für elektronisch erbrachte Dienstleistungen.

Unionsrechtlich beruht diese Vorschrift auf Art. 98 Abs. 2 i.V.m. Anhang III Nr. 9 MwStSystRL. Danach können die Mitgliedstaaten eine Steuersatzermäßigung auf Dienstleistungen von Schriftstellern, Komponisten und ausübenden Künstlern sowie diesen geschuldete urheberrechtliche Vergütungen anwenden. Nach Art. 98 Abs. 2 Unterabs. 2 MwStSysRL sind die ermäßigten Steuersätze wiederum nicht auf elektronisch erbrachte Dienstleistungen anwendbar, wie sie von der Klägerin erbracht wurden. Dementsprechend ist § 12 Abs. 2 Nr. 7 Buchst. c UStG einschränkend auszulegen.. Daher bedarf es nicht der Entscheidung des EuGH, ob Anhang III Nr. 9 MwStSystRL dahingehend auszulegen ist, dass diese Bestimmung Nutzungsrechtseinräumungen in urheberrechtlichen Lizenzketten umfasst oder ob sie der nationalen Steuerermäßigung nach § 12 Abs. 2 Nr. 7 Buchst. c UStG für eine urheberrechtliche Lizenzkette entgegensteht.

Zum Begriff „Lieferung” im umsatzsteuerrechtlichen Sinne

Eine Lieferung i.S. von § 3 Abs. 1 UStG setzt nicht notwendigerweise voraus, dass der Erwerber eine unmittelbare Zugriffsmöglichkeit auf den gelieferten Gegenstand erlangt.

BFH Urteil vom 09.09.2015 – XI R 21/13 BFH/NV 2016, 597

Sachverhalt:

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) begehrt den Vorsteuerabzug aus dem Erwerb einer Photovoltaikanlage.Sie war im Besteuerungszeitraum 2010 (Streitjahr) selbständig im Bereich Partyservice, Organisation und Dekoration von Festen tätig. Am 8. November 2010 bestellte die Klägerin bei der … GmbH & Co. KG (G) eine Photovoltaikanlage –bestehend aus Modulen, Wechselrichter, Unterkonstruktion und erforderlichem Systemzubehör– zum Preis von 50.000 EUR (netto). Die G hatte die Anlage zuvor in Bauteilen von der … AG mit Sitz in … (C) erworben. Nach Nr. 1.4 der Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) von G war dieser bekannt, dass die Klägerin die Photovoltaikanlage an die C zu verpachten beabsichtigte. Außerdem wies die Klägerin die G an, die Anlage direkt an die C zu übergeben (Nr. 2.2 der AGB).

Ebenfalls am 8. November 2010 bot die Klägerin der C den Abschluss eines Pachtvertrags an, der durch Annahme seitens der C am 20. Dezember 2010 zu Stande kam. Als Gegenstand des Pachtvertrags wurde dabei nicht die Überlassung der Photovoltaikanlage in betriebsbereitem Zustand, sondern die Überlassung der Einzelteile vereinbart. Die C schuldete –beginnend ab Januar 2011– für die Dauer von 215 Monaten einen monatlichen Pachtzins in Höhe von jeweils 541,67 EUR (netto). Zudem war sie, die C, verpflichtet, die Anlage an einem geeigneten Standort in Deutschland, insbesondere auf einem Dach oder in einem Solarpark, zu errichten und während der gesamten Dauer des Pachtverhältnisses die Funktionsfähigkeit der Photovoltaikanlage zu gewährleisten, wozu insbesondere die Wartung, Reparatur und ggf. Erneuerung der Anlage zählten. Die C war auch befugt, den Aufstellungsort der Anlage zu wechseln. Die Klägerin musste die Photovoltaikanlage nach Ablauf der vereinbarten Pachtdauer der C oder einem von dieser benannten Dritten zu einem Kaufpreis von 10.833,40 EUR (netto) anbieten.

Bis zur Installation lagerten die von der G an die Klägerin verkauften Teile in einer von der C angemieteten Lagerhalle. Die Photovoltaikanlage wurde im Dezember 2010 von C auf einem Gebäude in … installiert, aber bis Januar 2012 nicht zur Stromerzeugung genutzt. Am 20. Dezember 2010 reichte die Klägerin beim Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt –FA–) eine Umsatzsteuervoranmeldung für Dezember 2010 ein, in der sie Vorsteuern in Höhe von 9.500 EUR im Zusammenhang mit dem Erwerb der Photovoltaikanlage geltend machte. Da die Klägerin zwar zwei Rechnungen der G vorlegte, nicht jedoch die vom FA angeforderten Nachweise über die Lieferung, insbesondere das Lieferdatum und den Standort, sowie zur Existenz bzw. Funktionstüchtigkeit der Photovoltaikanlage, lehnte das FA den Vorsteuerabzug mit Bescheid vom 3. Mai 2011 mit der Begründung ab, dass bezüglich der Verpachtung der Photovoltaikanlage keine selbständige unternehmerische Tätigkeit i.S. von § 2 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) der Klägerin vorliege.

Begründung:

Das FG ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass eine Lieferung im umsatzsteuerrechtlichen Sinne eine unmittelbare Zugriffsmöglichkeit des Erwerbers auf den Liefergegenstand voraussetzt. Die tatsächlichen Feststellungen tragen nicht die vom FG vorgenommene Würdigung, der wirtschaftliche Gehalt der Vereinbarungen in Kauf- und Pachtvertrag habe in der Finanzierung des Erwerbs der Photovoltaikanlage und in der Sicherung der Klägerin durch die Übertragung des zivilrechtlichen Eigentums bestanden. Die Vorentscheidung ist aus verfahrensrechtlichen Gründen aufzuheben, weil ihr ein nicht mehr wirksamer Verwaltungsakt zugrunde liegt.

Lieferungen sind nach § 3 Abs. 1 UStG Leistungen, durch die ein Unternehmer oder in seinem Auftrag ein Dritter den Abnehmer oder in dessen Auftrag einen Dritten befähigt, im eigenen Namen über einen Gegenstand zu verfügen (Verschaffung der Verfügungsmacht). Diese Bestimmung setzt Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (vormals Art. 5 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern) in nationales Recht um.

Der unionsrechtliche Begriff „Lieferung von Gegenständen” bezieht sich nicht auf die Eigentumsübertragung in den durch das anwendbare nationale Recht vorgesehenen Formen. Er umfasst vielmehr jede Übertragung eines körperlichen Gegenstands durch eine Partei, die die andere Partei ermächtigt, über diesen Gegenstand faktisch so zu verfügen, als wäre sie sein Eigentümer. Der BFH umschreibt diesen Vorgang seit jeher und ebenfalls in ständiger Rechtsprechung als Übertragung von Substanz, Wert und Ertrag, ohne damit inhaltlich von der Rechtsprechung des EuGH abzuweichen

Eine Übertragung der Befugnis, wie ein Eigentümer über einen Gegenstand zu verfügen, kann z.B. dann vorliegen, wenn der dem zivilrechtlichen Eigentümer zustehende Herausgabeanspruch wertlos ist oder der Eigentümer den wirtschaftlichen Gehalt des Gegenstands dem Abnehmer auf sonstige Weise zuwendet. Dem Herausgabeanspruch des Eigentümers kommt dabei z.B. dann keine wirtschaftliche Bedeutung mehr zu, wenn der Nutzungsberechtigte nach dem Nutzungsvertrag verlangen kann, dass ihm das zur Nutzung überlassene Wirtschaftsgut unentgeltlich oder zu einem geringen Entgelt übertragen wird.

Entgegen der Rechtsansicht des FG ergibt sich aus diesen Grundsätzen nicht, dass eine unmittelbare Zugriffsmöglichkeit notwendige Voraussetzung für das Vorliegen einer Lieferung ist.

Bereits der Gesetzeswortlaut von § 3 Abs. 1 UStG sieht vor, das der liefernde Unternehmer „den Abnehmer oder in dessen Auftrag einen Dritten befähigt, im eigenen Namen über einen Gegenstand zu verfügen”. Diese Bestimmung sieht damit vor, dass eine Lieferung durch eine direkte Auslieferung an einen Dritten (z.B. Zweiterwerber) bewirkt werden kann (vgl. Martin in Sölch/Ringleb, Umsatzsteuer, § 3 UStG Rz 158). In diesem Fall hat der Abnehmer selbst keine unmittelbare Zugriffsmöglichkeit auf den Liefergegenstand. Aus der Aussage, dass es für eine umsatzsteuerrechtliche Verfügung „genügt”, tatsächlich auf den Liefergegenstand einzuwirken (vgl. Nieskens in Rau/Dürrwächter, Umsatzsteuergesetz, § 3 Rz 653), ergibt sich –entgegen der Auffassung des FG– nicht, dass ein „tatsächliches Einwirken auf den

Dass eine unmittelbare Zugriffsmöglichkeit des Erwerbers bestehen müsste, ergibt sich auch nicht aus der Rechtsprechung von EuGH oder BFH.Im Gegenteil geht der EuGH z.B. im Urteil VSTR vom 27. September 2012 C-587/10 (EU:C:2012:592, UR 2012, 832) zur Zuordnung der steuerfreien innergemeinschaftlichen Lieferung davon aus, dass es Vorgänge gibt, bei denen in Bezug auf denselben Liefergegenstand zwei aufeinanderfolgende Lieferungen, aber nur eine innergemeinschaftliche Beförderung durchgeführt wurden (Rz 31, sog. Reihengeschäft). Gelangt der Liefergegenstand bei einem Reihengeschäft unmittelbar vom ersten Lieferer an den letzten Abnehmer und holt der letzte Abnehmer die Ware beim ersten Lieferer ab, so erlangt der erste Abnehmer grundsätzlich zu keinem Zeitpunkt eine unmittelbare Zugriffsmöglichkeit auf den Liefergegenstand, obwohl zwei Lieferungen vorliegen.

Eine Lieferung kann auch dadurch bewirkt werden, dass der Liefergegenstand in Vollzug einer auf Eigentumsübertragung gerichteten Vereinbarung durch Einräumung mittelbaren Besitzes übergeben wird. Auch in diesem Fall hat der Erwerber keine unmittelbare Zugriffsmöglichkeit auf den gelieferten Gegenstand.

Die Sache ist nicht spruchreif. Die vom FG bislang getroffenen Feststellungen tragen dessen Würdigung nicht, dass der wirtschaftliche Gehalt der getroffenen Vereinbarungen in Kauf- und Pachtvertrag in der Finanzierung des Erwerbs der Photovoltaikanlage und darüber hinaus in der Sicherung der Klägerin durch das zivilrechtliche Eigentum an dieser Anlage bestand. Um die Leistung der Klägerin als reine Finanzierungsleistung mit Sicherung durch das zivilrechtliche Eigentum anzusehen, hätte das FG feststellen müssen, ob die C ihre Verfügungsmacht über die Photovoltaikanlage –trotz der zwischenzeitlichen Veräußerung nacheinander an die G und die Klägerin sowie die anschließende (Rück-)Verpachtung an die C– zu keinem Zeitpunkt verloren hat. Dies hat das FG jedoch (ausdrücklich) offengelassen.

Sofern die G die Verfügungsmacht über die Photovoltaikanlage erlangt hat, so ist die vom FG vorgenommene umsatzsteuerrechtliche Würdigung der Leistung der Klägerin als Finanzierungsleistung mit Sicherung durch das zivilrechtliche Eigentum nur möglich, wenn –was das FG nicht (positiv) festgestellt hat– die G entgegen der vertraglichen Vereinbarungen die Verfügungsmacht wieder an die C (zurück) übertragen hat. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH ergibt sich regelmäßig aus den abgeschlossenen zivilrechtlichen Vereinbarungen, wer bei einem Umsatz als Leistender bzw. als Leistungsempfänger anzusehen ist. Dem entspricht die Rechtsprechung des EuGH, wonach die einschlägigen Vertragsbedingungen bei der Feststellung der Leistungsbeziehungen zu berücksichtigen sind, da die vertragliche Situation normalerweise die wirtschaftliche und geschäftliche Realität der Transaktionen widerspiegelt.

Eine von den „vertraglichen Vereinbarungen” abweichende Bestimmung des Leistenden kommt lediglich bei Vorliegen besonderer Umstände in Betracht. Der EuGH hat hierzu entschieden, dass sich herausstellen kann, „dass einige Vertragsbestimmungen gelegentlich die wirtschaftliche und geschäftliche Realität der Transaktionen nicht vollständig widerspiegeln”, was insbesondere der Fall sein kann, wenn die betreffenden Vertragsbestimmungen eine missbräuchliche Gestaltung darstellen.

Wann eine missbräuchliche Gestaltung vorliegt, regelt im nationalen Recht § 42 AO. Diese Bestimmung ist im Umsatzsteuerrecht anwendbar. Unionsrechtlich sind nach dem Grundsatz des Verbots des Rechtsmissbrauchs rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Gestaltungen, die allein zu dem Zweck erfolgen, einen Steuervorteil zu erlangen, verboten. Davon kann ausgegangen werden, wenn zum einen die fraglichen Umsätze trotz formaler Anwendung der Voraussetzungen der einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts und des zu ihrer Umsetzung ergangenen nationalen Rechts zur Erlangung eines Steuervorteils führen, dessen Gewährung dem mit diesen Bestimmungen verfolgten Ziel zuwiderliefe, und zum anderen aufgrund einer Reihe objektiver Anhaltspunkte ersichtlich ist, dass mit den fraglichen Umsätzen im Wesentlichen ein Steuervorteil bezweckt wird.

Liegt eine solche missbräuchliche Praxis vor, so sind die Vertragsbestimmungen in der Weise neu zu definieren, dass auf die Lage abgestellt wird, die ohne die diese missbräuchliche Praxis darstellenden Transaktionen bestanden hätte.

Kindergeld für Elternteile, die im EU-Ausland leben

Die Fiktion des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009, wonach bei der Anwendung von Art. 67 und 68 der VO Nr. 883/2004 die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen ist, als würden alle Beteiligten –insbesondere was das Recht zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt– unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats (hier: Deutschland) fallen und dort wohnen, kann dazu führen, dass der Anspruch auf Kindergeld nach §§ 62 ff. EStG nicht dem in Deutschland, sondern dem im EU-Ausland lebenden Elternteil zusteht (EuGH-Urteil vom 22. Oktober 2015 C-378/14, EU:C:2015:720, DStRE 2015, 1501). Kann wegen der –nicht nur räumlichen– Trennung der Eltern nicht fingiert werden, dass diese in Deutschland in einem gemeinsamen Haushalt leben, ist nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG der Elternteil kindergeldberechtigt, der das Kind in seinem Haushalt aufgenommen hat.

In einem derartigen Fall steht der Kindergeldanspruch auch dann nicht dem in Deutschland lebenden Elternteil zu, wenn der im EU-Ausland lebende Elternteil keinen Antrag auf Kindergeld gestellt hat.

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 4.2.2016, III R 17/13

Begründung:

Lebt ein Kind im EU-Ausland bei der geschiedenen Ehefrau, ist sie, nicht aber der in Deutschland lebende Vater kindergeldberechtigt, wie der Bundesfinanzhof (BFH) mit Urteil vom 4. Februar 2016 III R 17/13 entschieden hat.

Im Streitfall beantragte ein in Deutschland wohnender deutscher Staatsangehöriger Kindergeld für seinen Sohn. Der Sohn lebte in Polen im Haushalt seiner Mutter, der geschiedenen polnischen Ehefrau des Klägers. Die Familienkasse lehnte den Antrag ab, weil sie der Ansicht war, der Anspruch auf Kindergeld stehe nicht dem Kläger zu. Kindergeldberechtigt sei die geschiedene Ehefrau. Dem stehe nicht entgegen, dass sie in Deutschland über keinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt verfügt habe. Vor dem Finanzgericht (FG) hatte der Kläger Erfolg. Demgegenüber hob der BFH das Urteil des FG auf und wies die Klage ab.

Entscheidend ist hierfür die unionsrechtliche Vereinheitlichung der nationalen Regelungen zur sozialen Sicherheit (Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der ab dem 1. Mai 2010 geltenden VO Nr. 987/2009). Danach ist bei Ansprüchen auf Familienleistungen in grenzüberschreitenden Sachverhalten die gesamte Familie so zu behandeln, als würde sie in dem Mitgliedstaat wohnen, dessen Familienleistungen beansprucht werden (Wohnsitzfiktion).

Da das deutsche Kindergeldrecht nicht danach unterscheidet, ob die Eltern eines Kindes verheiratet sind oder nicht, ist auch die geschiedene Ehefrau Familienangehörige. Somit gilt sie als mit dem Kind in Deutschland lebend. Damit steht ihr der Anspruch auf Kindergeld zu, da nach deutschem Recht das Kindergeld bei getrennt lebenden Eltern vorrangig an den Elternteil ausgezahlt wird, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat.

Da der BFH Zweifel hatte, ob das Unionsrecht tatsächlich eine solch weitgehende Fiktion beabsichtigte, richtete er ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), in dem der EuGH (Urteil vom 22. Oktober 2015 C-378/14 in der Rechtssache Trapkowski) entschied, dass die Wohnsitzfiktion zu einem Wechsel der persönlichen Anspruchsberechtigung von dem in Deutschland lebenden Elternteil zu dem im EU-Ausland lebenden anderen Elternteil führen kann. Daran ändert sich auch dann nichts, wenn der im EU-Ausland lebende Elternteil keinen Antrag auf deutsches Kindergeld gestellt hat.

Kindergeld für Großeltern, die im EU-Ausland leben

Der im anderen EU-Mitgliedstaat lebende Großelternteil kann gegenüber dem im Inland lebenden Elternteil nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG i.V.m. Art. 67 der VO Nr. 883/2004, Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 vorrangig kindergeldberechtigt sein, wenn er seine Enkelkinder in seinem Heimatland in einen Haushalt aufgenommen hat, der nicht ihm und dem Elternteil gemeinsam zuzurechnen ist.

Die nach Art. 67 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 vorzunehmende Fiktion bewirkt, dass die Wohnsituation auf Grundlage der im Streitzeitraum im anderen EU-Mitgliedstaat gegebenen Verhältnisse (fiktiv) ins Inland übertragen wird.

Das Vorliegen eines gemeinsamen Haushalts i.S. des § 64 Abs. 2 Satz 5 (oder Satz 2) EStG setzt voraus, dass zwischen den Beteiligten eine Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft besteht. Ob diese Voraussetzungen gegeben sind, ist Tatfrage und vom FG als Tatsacheninstanz anhand der Umstände des Einzelfalls zu entscheiden.

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 10.3.2016, III R 62/12

Begründung:

In seinem Urteil folgte der BFH der Beurteilung durch den EuGH. Damit war das Urteil des FG aufzuheben und die Klage des Vaters abzuweisen. Die Entscheidung des BFH ist von allgemeiner Bedeutung für Fälle, in denen die Eltern eines Kindes in unterschiedlichen EU-Staaten leben und in keinem EU-Staat ein gemeinsamer Haushalt der Eltern und des Kindes besteht. In Bezug auf den Sohn, für den das Kindergeld beansprucht wurde, hat die Familienkasse nunmehr über den Kindergeldanspruch der geschiedenen Ehefrau zu entscheiden.

Inhaltsgleich hat der BFH in einem zweiten Urteil vom 10. März 2016 III R 62/12 entschieden. Hier lebten die beiden Töchter des in Deutschland wohnenden Klägers bei ihrer in Griechenland lebenden Großmutter. Nach deutschem Recht kann ein Anspruch auf Kindergeld auch einem Großelternteil zustehen, der sein Enkelkind in seinen Haushalt aufgenommen hat. Der BFH folgte auch hier dem EuGH-Urteil Trapkowski. Somit war auch hier zu fingieren, dass die Großmutter mit ihren beiden Enkelinnen in Deutschland lebte. Ein Anspruch auf Kindergeld steht somit ihr zu und nicht dem Kläger.