Anerkennung von Krankheitskosten

Nachweisanforderungen an die Zwangsläufigkeit von Aufwendungen für die Unterbringung eines Kindes in einer vollstationären kinder- und jugendpsychiatrischen Einrichtung.

FG Niedersachsen Urteil vom vom 20.12.2013, 7 K 69/12

Begründung:

Nach § 33 Abs. 1 EStG wird die Einkommensteuer auf Antrag ermäßigt, wenn einem Steuerpflichtigen zwangsläufig größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse, gleicher Vermögensverhältnisse und gleichen Familienstands (außergewöhnliche Belastung) erwachsen. Zwangsläufig erwachsen dem Steuerpflichtigen Aufwendungen dann, wenn er sich ihnen aus rechtlichen, tatsächlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann und soweit die Aufwendungen den Umständen nach notwendig sind und einen angemessenen Betrag nicht übersteigen (§ 33 Abs. 2 Satz 1 EStG). Ziel des § 33 EStG ist es, zwangsläufige Mehraufwendungen für den existenznotwendigen Grundbedarf zu berücksichtigen, die sich wegen ihrer Außergewöhnlichkeit einer pauschalen Erfassung in allgemeinen Freibeträgen entziehen. Aus dem Anwendungsbereich des § 33 EStG ausgeschlossen sind dagegen die üblichen Aufwendungen der Lebensführung, die in Höhe des Existenzminimums durch den Grundfreibetrag abgegolten sind.

In ständiger Rechtsprechung geht der BFH davon aus, dass Krankheitskosten -ohne Rücksicht auf die Art und die Ursache der Erkrankung- dem Steuerpflichtigen aus tatsächlichen Gründen zwangsläufig erwachsen. Allerdings werden nur solche Aufwendungen als Krankheitskosten berücksichtigt, die zum Zwecke der Heilung einer Krankheit (z.B. Medikamente, Operation) oder mit dem Ziel getätigt werden, die Krankheit erträglich zu machen.

Allerdings hat der Steuerpflichtige die Zwangsläufigkeit von Aufwendungen im Krankheitsfall in einer Reihe von Fällen formalisiert nachzuweisen. Nach § 64 Abs. 1 Nr. 2 EStDV ist dieser Nachweis durch ein amtsärztliches Gutachten oder eine ärztliche Bescheinigung eines Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (§ 275 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch) für die dort genannten Maßnahme zu führen, wobei das Gutachten bzw. die Bescheinigung vor Beginn der Heilmaßnahme oder dem Erwerb des medizinischen Hilfsmittels ausgestellt worden sein muss.

Diesen strengen Nachweisanforderungen sind die Kläger im vorliegenden Streitverfahren nicht nachgekommen. Zwar legten die Kläger einen Befundbericht des Kinderhospitals vom 16. Oktober 2007 sowie einen Befundbericht der Jugendklinik vom 17. April 2009 vor, aus denen die Erkrankung der Tochter ersichtlich ist. Auch kann aus der Übernahme der Kosten der vollstationären Unterbringung der Tochter in einer betreuten Mädchengruppe durch den Landkreis darauf geschlossen werden, dass die Unterbringung der Tochter medizinisch begründet ist. Insoweit ist der Senat zu der Überzeugung gelangt, dass die Aufwendungen, die durch die vollstationäre Betreuung in der Mädchengruppe den Klägern entstanden sind, durch die Erkrankung der Tochter verursacht sind und deren Heilung dienen. Dies reicht aber nach der gesetzlichen Regelung für den Nachweis der Zwangsläufigkeit der Aufwendungen nicht aus, denn nach § 64 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c EStDV muss der Nachweis der Zwangsläufigkeit durch ein vor Beginn der Heilmaßnahme ausgestelltes amtsärztliches Gutachten oder durch eine ärztliche Bescheinigung eines medizinischen Dienstes der Krankenversicherung erbracht werden. Diesen Anforderungen entsprechen die vorgelegten Nachweise der Kläger nicht. Die Aufwendungen für die vollstationäre Unterbringung der Tochter können in den Streitjahren daher nicht als außergewöhnliche Belastungen gem. § 33 EStG vom Gesamtbetrag der Einkünfte abgezogen werden.

Die strengen Nachweisanforderungen des § 64 Abs. 1 Nr. 2 EStDV sind – entgegen der Auffassung der Kläger – auch für die hier geltend gemachten Aufwendungen der vollstationären Unterbringung der Tochter zu erfüllen. Nach § 64 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c EStDV ist der Nachweis durch ein vor Beginn der Behandlung ausgestelltes amtsärztliches Gutachten oder eine ärztliche Bescheinigung des medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (§ 275 SGB V) für eine medizinisch erforderliche auswärtige Unterbringung eines an Legasthenie oder einer anderen Behinderung leidenden Kindes des Steuerpflichtigen zu führen. Nach § 2 SGB IX sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Nach dieser gesetzlichen Begriffsdefinition, die nach Auffassung des Senats auch für die Auslegung des § 64 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c EStDV heranzuziehen ist, liegt bei der Tochter der Klägerin eine entsprechende Beeinträchtigung vor. Nach den im Klageverfahren vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen ist die Tochter über einen längeren Zeitraum als sechs Monate in ihrer seelischen Gesundheit erheblich beeinträchtigt. Dementsprechend sind die strengen Nachweisanforderungen des § 64 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c EStDV zu erfüllen. Dieses Ergebnis wird auch durch die langjährige Rechtsprechung des BFH zum Nachweis der Zwangsläufigkeit bestätigt, die erst mit der Entscheidung des BFH vom 11. November 2010 – VI R 17/09, BStBl. II 2011, 969 geändert wurde. Bis zur Entscheidung vom 11. November 2010 – VI R 17/09, BStBl. II 2011, 969 forderte auch der BFH zum Nachweis der Zwangsläufigkeit bestimmter Aufwendungen ein vor Beginn der Heilmaßnahme ausgestelltes amts- bzw. vertrauensärztliches Gutachten (z.B. BFH-Urteil vom 14. Februar 1980 VI R 218/77, BStBl. II 1980, 295). Auch für die Unterbringung eines verhaltensauffälligen Jugendlichen in einer sozialtherapeutischen Wohngruppe hatte der BFH ausdrücklich ein solches vor der Unterbringung ausgestelltes amts- bzw. vertrauensärztliches Gutachten gefordert, um zweifelsfrei die Zwangsläufigkeit der damit verbundenen Aufwendungen feststellen zu können. Die Regelung des § 64 EStDV hat der Gesetzgeber ausweislich der Gesetzesbegründung ausdrücklich zu dem Zweck eingeführt, die vor der Rechtsprechungsänderung bestehende Spruchpraxis ohne zeitliche Lücke aufrecht zu erhalten (BT-Drucks.17/6146, 17). Daher ist der Senat der Auffassung, dass die Regelung des § 64 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c EStDV gerade auch die Unterbringung verhaltensauffälliger Jugendlicher – wie vorliegend im Streitfall – erfassen sollte. Der erkennbare gesetzgeberische Wille hat dabei auch Eingang in den Regelungstext gefunden, in dem § 64 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c EStDV von einer medizinisch erforderlichen auswärtigen Unterbringung wegen einer Behinderung spricht.

Zwar ist es aus Sicht des Senats unter systematischen Gesichtspunkten nicht zwingend notwendig, die Vorlage eines vor Beginn der Behandlung ausgestellten amtsärztlichen Gutachtens oder einer ärztlichen Bescheinigung eines medizinischen Dienstes der Krankenversicherung zu verlangen. Wie der Streitfall anschaulich zeigt, hätte sich der Senat auch durch Vorlage ärztlicher Gutachten oder durch Beauftragung eines unabhängigen Gutachters ausreichende Gewissheit über die medizinische Notwenigkeit der auswärtigen Unterbringung der Tochter verschaffen können. Dabei trägt der Steuerpflichtige das Risiko, die medizinische Notwendigkeit nicht ausreichend nachweisen zu können. Denn der Steuerpflichtige hat die Entstehung außergewöhnlicher Belastungen zur Überzeugung des Gerichts nachzuweisen (BFH-Urteil 11. November 2010 – VI R 17/09, BStBl. II 2011, 969). Somit trägt er das Risiko, dass ein gerichtlich bestellter Sachverständiger im Nachhinein die medizinische Indikation der streitigen Behandlung möglicherweise nicht mehr verlässlich feststellen kann. Unter Berücksichtigung dieser Umstände hätte es nach Auffassung des Senats ausgereicht, wenn der Steuerpflichtige den Nachweis der medizinischen Notwendigkeit einer auswärtigen Unterbringung nach den allgemeinen Beweisregeln hätte führen können, so wie es der BFH in seiner Entscheidung vom 11. November 2010 (VI R 17/09, BStBl. II 2011, 969) überzeugend dargelegt hat. Allerdings ist der Senat trotz dieser Bedenken gegen die strengen Nachweisanforderungen nicht von der Verfassungswidrigkeit der Regelung des § 33 Abs. 4 EStG i.V.m. § 64 Abs. 1 Nr. 2 EStDV überzeugt. Allein das auf systematische Überlegungen gestützte Ergebnis, der Gesetzgeber hätte auch eine „bessere“ Lösung für das Nachweisproblem finden können, führt nicht zur Verfassungswidrigkeit einer Norm. Vielmehr durfte der Gesetzgeber ein strenges formalisiertes Nachweisverfahren zur Vereinfachung des Verwaltungsverfahrens gesetzlich anordnen.