Anordnung einer zweiten Anschlussprüfung bei einem Mittelbetrieb

Die Anordnung einer zweiten Anschlussprüfung für ein gewerbliches Einzelunternehmen, das im Zeitpunkt der Bekanntgabe dieser Prüfungsanordnung als Mittelbetrieb eingestuft ist, bedarf grundsätzlich keiner über § 193 Abs. 1 AO hinausgehenden Begründung.

Eine derartige Prüfung ist ermessensgerecht, wenn keine Anhaltspunkte für eine willkürliche oder schikanöse Belastung bestehen und sie nicht gegen das Übermaßverbot verstößt. Sie ist nicht übermäßig, wenn das Unternehmen während des vorgesehenen Prüfungszeitraumes zeitweise als Großbetrieb eingeordnet war und sich aufgrund vorliegenden Kontrollmaterials aus Sicht des FA ein Prüfungsbedarf ergibt.

BFH Urteil vom 15.06.2016 – III R 8/15 (veröffentlicht am 12.10.2016)

Begründung:

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung –FGO–).
Gegenstand des Verfahrens ist die Prüfungsanordnung vom 13. März 2014. Wird der angefochtene Verwaltungsakt nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung geändert oder ersetzt, so wird der neue Verwaltungsakt nach § 68 Satz 1 FGO Gegenstand des Verfahrens. Dies gilt auch bei Ermessensentscheidungen (BFH-Urteile vom 16. Dezember 2008 I R 29/08, BFHE 224, 195, BStBl II 2009, 539, unter II.2.d; vom 15. Mai 2013 VI R 28/12, BFHE 241, 200, BStBl II 2013, 737, Rz 11; vom 26. Juni 2014 IV R 17/14, BFH/NV 2014, 1507, Rz 20 ff.; Lange in Hübschmann/Hepp/ Spitaler –HHSp– § 102 FGO Rz 63; Schallmoser in HHSp, § 68 FGO Rz 16).

Die Prüfungsanordnung vom 13. März 2014 ist rechtmäßig. Ob und in welchem Umfang bei einem Steuerpflichtigen nach § 193 AO eine Außenprüfung angeordnet wird, ist eine Ermessensentscheidung, die vom Gericht nach § 102 FGO nur darauf zu prüfen ist, ob die gesetzlichen Grenzen der Ermessensvorschrift eingehalten wurden und ob die Behörde das ihr eingeräumte Ermessen unter Beachtung des Gesetzeszwecks (§ 5 AO) fehlerfrei ausgeübt hat (BFH-Urteil in BFHE 235, 298, BStBl II 2012, 395, Rz 20). Die Prüfungsanordnung vom 13. März 2014 entspricht diesen Vorgaben. Das FA hat die gesetzlichen Grenzen des Ermessens beachtet (dazu 1.) und frei von Ermessensfehlern entschieden (dazu 2.).

Die gesetzlichen Grenzen des Ermessens sind nicht überschritten.
Eine Außenprüfung ist nach § 193 Abs. 1 AO u.a. zulässig bei Steuerpflichtigen, die –wie der Kläger– einen gewerblichen Betrieb unterhalten. Weitere Anforderungen enthält die Norm nicht; es handelt sich um eine tatbestandlich voraussetzungslose Prüfungsermächtigung. Im Rahmen des § 193 Abs. 1 AO sind daher Außenprüfungen in den Grenzen des Verhältnismäßigkeitsprinzips und des Willkürverbots grundsätzlich unbeschränkt zulässig (BFH-Urteile vom 2. Oktober 1991 X R 89/89, BFHE 166, 105, BStBl II 1992, 220, unter 2.a und 2.h; in BFHE 235, 298, BStBl II 2012, 395, Rz 21, 25; vom 16. Dezember 2014 VIII R 52/12, BFHE 250, 1, Rz 20; Senatsbeschluss vom 14. Juli 2014 III B 8/14, BFH/NV 2014, 1880, Rz 10, jeweils m.w.N.). Weder der Abgabenordnung noch der Betriebsprüfungsordnung ist zu entnehmen, dass Außenprüfungen nur in einem bestimmten Turnus oder mit zeitlichen Abständen erfolgen dürfen.

Der Prüfungsanordnung stand § 193 Abs. 2 Nr. 2 AO nicht entgegen.
Nach dieser Vorschrift ist eine Außenprüfung bei anderen als den in § 193 Abs. 1 AO bezeichneten Steuerpflichtigen zulässig, wenn die für die Besteuerung erheblichen Verhältnisse der Aufklärung bedürfen und eine Prüfung an Amtsstelle nach Art und Umfang des zu prüfenden Sachverhalts nicht zweckmäßig ist. Demgegenüber enthält § 193 Abs. 1 AO keinen Vorrang der Prüfung an Amtsstelle. Betriebe i.S. dieser Vorschrift unterliegen kraft Gesetzes der Außenprüfung und sind daher verpflichtet, die damit verbundenen Eingriffe zu dulden (BFH-Urteil in BFHE 166, 105, BStBl II 1992, 220; BFH-Beschluss vom 16. Februar 2011 VIII B 246/09, BFH/NV 2011, 748; Senatsbeschluss in BFH/NV 2014, 1880, Rz 12). Der Gesetzgeber ging davon aus, dass die steuererheblichen Verhältnisse der dort genannten Steuerpflichtigen, zu denen auch der Kläger zählt, “durchweg” nur durch Außenprüfungen genau überprüft werden könnten (BTDrucks 6/1982, S. 161). Dabei wird nicht zwischen erstmaligen Prüfungen und Anschlussprüfungen unterschieden.

Für die Anordnung einer Außenprüfung ist unerheblich, ob –was für den Senat nicht ersichtlich ist– hinsichtlich der betroffenen Steuerarten und Besteuerungszeiträume der Anfangsverdacht einer Steuerstraftat besteht (BFH-Urteile vom 4. November 1987 II R 102/85, BFHE 151, 324, BStBl II 1988, 113; vom 4. Oktober 2006 VIII R 53/04, BFHE 215, 12, BStBl II 2007, 227, unter II.2.b; s.a. BFH-Beschluss vom 29. Dezember 2010 IV B 46/09, BFH/NV 2011, 634; anderer Ansicht Drüen, Veröffentlichungen der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft, Band 38, S. 219, 232).

Das FA hat von seinem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht.
Die Anordnung der zweiten Anschlussprüfung verstößt nicht gegen den Grundsatz der Selbstbindung der Verwaltung.

Die BpO bewirkt eine auch im gerichtlichen Verfahren zu beachtende Selbstbindung der Finanzverwaltung bei der Anordnung von Außenprüfungen (BFH-Urteile vom 19. August 1998 XI R 37/97, BFHE 186, 506, BStBl II 1999, 7, unter II.1.; vom 23. Februar 2005 XI R 21/04, BFH/NV 2005, 1218, unter II.4.a; Klein/ Rüsken, AO, 12. Aufl., § 194 Rz 18 f.; s.a. BFH-Beschluss vom 3. Februar 2009 VIII B 114/08, BFH/NV 2009, 887). Es handelt sich um eine ermessenslenkende Verwaltungsvorschrift, so dass ihre Auslegung sich nicht nach den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Maßstäben richtet, sondern danach, wie die Verwaltung sie versteht und verstanden wissen will. Die gerichtliche Überprüfung beschränkt sich darauf, ob die Auslegung durch die Behörde möglich ist (BFH-Beschluss in BFH/NV 2009, 887; vgl. auch BFH-Urteil vom 19. September 2012 VI R 54/11, BFHE 239, 85, BStBl II 2013, 395, Rz 21).

Nach der BpO bestimmt die Finanzbehörde den Umfang der Außenprüfung nach pflichtgemäßem Ermessen (§ 4 Abs. 1 BpO). Bei Großbetrieben und bestimmten anderen Unternehmen soll der Prüfungszeitraum an den vorhergehenden Prüfungszeitraum anschließen (§ 4 Abs. 2 Satz 1 BpO). Bei anderen Betrieben soll der Prüfungszeitraum in der Regel nicht mehr als drei zusammenhängende Besteuerungszeiträume umfassen. Der Prüfungszeitraum kann insbesondere dann drei Besteuerungszeiträume übersteigen, wenn mit nicht unerheblichen Änderungen der Besteuerungsgrundlagen zu rechnen ist oder wenn der Verdacht einer Steuerstraftat oder einer Steuerordnungswidrigkeit besteht; Anschlussprüfungen sind zulässig (§ 4 Abs. 3 BpO). Dabei ist grundsätzlich die Größenklasse (§ 3 BpO) maßgebend, in die der Betrieb im Zeitpunkt der Bekanntgabe der Prüfungsanordnung eingeordnet ist (§ 4 Abs. 4 BpO).

Der Betrieb des Klägers war danach bei Erlass der streitgegenständlichen Prüfungsanordnung als Mittelbetrieb eingestuft, so dass er nicht schon nach § 4 Abs. 2 Satz 1 BpO der Anschlussprüfung unterlag. Die BpO lässt jedoch Anschlussprüfungen auch bei Mittelbetrieben ausdrücklich zu und macht sie auch nicht von besonderen Voraussetzungen abhängig (§ 4 Abs. 3 Satz 3 BpO). Im Übrigen wird im sog. Rationalisierungserlass die Bedeutung der Unvorhersehbarkeit der Außenprüfung hervorgehoben (abgedruckt bei Schallmoser in HHSp, Vor §§ 193 bis 203 AO Rz 107, unter 3.1). Diese Unvorhersehbarkeit spricht somit aus Sicht der Verwaltung gegen eine Bindung von Außenprüfungen an einen bestimmten Turnus oder einen Anspruch auf prüfungsfreie Jahre.

Andere Ermessensfehler sind nicht erkennbar.
Die Finanzbehörden sind verpflichtet, für eine steuerliche Belastungsgleichheit zu sorgen und diese auch hinsichtlich des tatsächlichen Erfolges zu gewährleisten (Urteil des Bundesverfassungsgerichts –BVerfG– vom 27. Juni 1991 2 BvR 1493/89, BStBl II 1991, 654, 665). Die Herstellung der steuerlichen Lastengleichheit spricht für eine möglichst lückenlose Prüfung; die Verwaltung kann daher grundsätzlich alle Veranlagungszeiträume durch eine Außenprüfung kontrollieren (BFH-Urteile in BFHE 166, 105, BStBl II 1992, 220; vom 10. Juni 1992 I R 142/90, BFHE 168, 226, BStBl II 1992, 784, Rz 21). Da eine umfassende Prüfung der unter § 193 Abs. 1 AO fallenden Steuerpflichtigen nicht realisierbar ist, kann sich die Finanzbehörde zumindest die prophylaktische Wirkung nutzbar machen, die in der Unberechenbarkeit eines prüfungsfreien Zeitraums zwischen den turnusmäßigen Prüfungen liegt (vgl. BFH-Urteil vom 2. September 1988 III R 280/84, BFHE 154, 425, BStBl II 1989, 4; BFH-Beschluss in BFH/NV 2009, 887). Daher ist bei der Ermessensausübung nach § 193 Abs. 1 AO für die Berücksichtigung eines Individualinteresses auf Verschonung von den durch eine Außenprüfung ausgelösten Belastungen vorbehaltlich des Übermaß- sowie des Willkür- und Schikaneverbots grundsätzlich kein Raum (z.B. BFH-Urteil in BFHE 166, 105, BStBl II 1992, 220, Rz 21 f.).

Anhaltspunkte für eine willkürliche oder schikanöse Belastung des Klägers (vgl. dazu z.B. BFH-Urteil in BFHE 235, 298, BStBl II 2012, 395) sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.

Der Kläger wurde durch die Anordnung einer zweiten Anschlussprüfung auch nicht in ermessensfehlerhafter Weise übermäßig belastet.
Ob ein Ermessensfehler gegeben ist, beurteilt sich grundsätzlich nach Begründung der Prüfungsanordnung durch das FA (BFH-Urteil in BFHE 159, 28, BStBl II 1990, 272, unter 2.). Da die Anordnung einer Prüfung grundsätzlich ermessensgerecht ist, wenn sie nicht gegen das Übermaß-, das Willkür- oder das Schikaneverbot verstößt, bedarf sie indessen regelmäßig keiner über die Angabe der gesetzlichen Grundlage –hier § 193 Abs. 1 AO– hinausgehenden Begründung. Dies gilt nicht nur für die erste Anschlussprüfung bei einem Mittelbetrieb (BFH-Beschluss vom 19. November 2009 IV B 62/09, BFH/NV 2010, 595), sondern auch –wie hier– für die zweite Anschlussprüfung.

Der Kläger wurde durch die Prüfungsanordnung nicht übermäßig belastet. Denn das Unternehmen des Klägers war, worauf sich das FA auch berufen hat, zwar zum maßgeblichen Zeitpunkt (§ 4 Abs. 4 BpO) als Mittelbetrieb eingestuft, aber zuvor –zum 1. Januar 2010 und damit innerhalb des vorgesehenen Prüfungszeitraums– als Großbetrieb eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Kriterium, das es als ermessensfehlerfrei erscheinen lässt, den Prüfungsabstand kürzer als bei anderen Mittelbetrieben zu bemessen.