Auslegung eines Einspruchsschreiben

Auch wenn im Rubrum eines Einspruchsschreibens ein "Bescheid über Einkommensteuer, Kirchensteuer und Solidaritätszuschlag" genannt ist, ist der Einspruch als lediglich gegen die Festsetzung des Solidaritätszuschlag gerichtet anzusehen, wenn die Einspruchsbegründung ausschließlich auf Rechtsfragen in Zusammenhang mit dem Solidaritätszuschlag eingeht und das Ruhen "des Rechtsbehelfsverfahrens" wegen eines Musterprozesses zum Solidaritätszuschlag beantragt wird.

Der BFH darf ein Einspruchsschreiben selbst auslegen, wenn die vom FG vorgenommene Auslegung rechtsfehlerhaft ist, das FG aber alle für die Auslegung maßgebenden Umstände festgestellt hat.

BFH Urteil vom 19.8.2013, X R 44/11

Begründung:

Gemäß § 357 Abs. 3 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) "soll" bei der Einlegung des Rechtsbehelfs der Verwaltungsakt bezeichnet werden, gegen den der Einspruch gerichtet ist. Danach ist die Rechtswirksamkeit des eingelegten Rechtsbehelfs nicht von einer genauen Bezeichnung des angefochtenen Verwaltungsakts abhängig. Es ist jedoch erforderlich, dass sich die Zielrichtung des Begehrens aus der Rechtsbehelfsschrift in der Weise ergibt, dass sich der angefochtene Verwaltungsakt entweder aus dem Inhalt der Rechtsbehelfsschrift selbst ermitteln lässt oder Zweifel oder Unklarheiten am Gewollten durch Rückfragen des FA beseitigt werden können. Fehlt es an einer eindeutigen und zweifelsfreien Erklärung des tatsächlich Gewollten, ist der wirkliche Wille des Steuerpflichtigen durch Auslegung seiner Erklärungen zu ermitteln.

Anders als das FA in seiner Revisionsbegründung meint, ist das Schreiben vom 12. Mai 2009 auslegungsbedürftig. Daran würde es nur dann fehlen, wenn die Erklärung nach Wortlaut und Zweck einen eindeutigen Inhalt hätte. Das Einspruchsschreiben der Kläger ist aber nicht eindeutig, weil in dessen Rubrum und im ersten Absatz alle drei Verwaltungsakte genannt sind, die in dem Sammelbescheid vom 30. April 2009 enthalten waren (Einkommensteuer-, Kirchensteuer- und Solidaritätszuschlagsbescheid), während sich die nachfolgende Begründung des Einspruchs ausschließlich auf die Festsetzung des Solidaritätszuschlags bezieht.

Nach diesen Grundsätzen erweist sich die durch das FG vorgenommene Auslegung als rechtsfehlerhaft. Das FG hat sich als an den Wortlaut des Rubrums und des ersten Absatzes des Einspruchsschreibens gebunden gesehen und nicht den –aus Sicht eines objektiven Erklärungsempfängers erkennbaren– wirklichen Willen des Erklärenden erforscht, der sich aus der Einspruchsbegründung ergibt, die dem ersten Absatz des zitierten Schreibens nachfolgt.

Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung ist bei auslegungsfähigen Rechtsbehelfen davon auszugehen, dass der Steuerpflichtige denjenigen Rechtsbehelf einlegen will, der seinem materiell-rechtlichen Begehren am ehesten zum Erfolg verhilft Das materiell-rechtliche Begehren der Kläger war ausweislich der von ihnen abgegebenen, im Einspruchsschreiben enthaltenen Einspruchsbegründung (Abs. 2 des Schreibens vom 12. Mai 2009) ausschließlich auf einen Wegfall der Festsetzung des Solidaritätszuschlags gerichtet. Für dieses Begehren haben sie –unter Bezugnahme auf ein vor dem FG anhängiges Musterverfahren– verfassungsrechtliche Gründe angeführt, die sich ausschließlich auf die Befugnis des Gesetzgebers zur Aufrechterhaltung des Solidaritätszuschlags, nicht aber auf die verfassungsrechtliche Legitimation anderer Steuerarten bezogen. Das Begehren der Kläger war nicht einmal andeutungsweise auf eine Änderung der Bescheide über Einkommen- oder Kirchensteuer gerichtet.