Gewöhnlicher Aufenthalt während mehrerer aufeinanderfolgender Entsendungen

Ein zeitlich zusammenhängender Aufenthalt von mehr als sechs Monaten i.S. des § 9 Satz 2 AO kann auch dann vorliegen, wenn ein Arbeitnehmer während dieses Zeitraums mehrfach aufeinanderfolgend in das Inland entsandt wird, sofern objektive Umstände vorliegen, die für einen solchen Zusammenhang und eine Fortdauer des Anlasses sprechen.

BFH Beschluss vom 19.06.2015 – III B 143/14, BFH/NV 2015, 1386

Sachverhalt:

Der Kläger und Beschwerdegegner (Kläger) ist polnischer Staatsangehöriger. Seine Ehefrau und die beiden im Dezember 1989 und August 1994 geborenen Söhne leben am gemeinsamen Familienwohnsitz in Polen. Der ältere Sohn befand sich im streitigen Zeitraum April und Mai 2009 in einer Berufsausbildung.

Der Kläger stand in einem Arbeitsverhältnis zu einer polnischen Firma, das ab 1. März 2002 zunächst auf sechs Monate befristet, anschließend unbefristet und vom 18. September 2009 bis 17. September 2011 erneut befristet war. Von seiner Arbeitgeberin wurde der Kläger vom 1. Juni 2004 bis 20. März 2009, 1. Juni 2009 bis 31. März 2011, 1. Juni 2011 bis 31. März 2013 und 1. Juni 2013 bis 31. Mai 2015 zu jeweils demselben Betrieb in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) entsandt. Er wohnte während dieser Zeiten in einer Sammelunterkunft, die während der Unterbrechungszeiten anderen Arbeitnehmern zur Verfügung stand. Sozialversichert war der Kläger dabei weiterhin in Polen. Im Jahr 2009 bezog der Kläger bis einschließlich März und wieder ab Juni Gehalt. Auf der Lohnsteuerbescheinigung bescheinigte der Arbeitgeber ein ganzjähriges Arbeitsverhältnis. Der Bruttoarbeitslohn 2009 betrug 24.892,16 EUR. Das zuständige Finanzamt in Deutschland veranlagte den Kläger für 2009 zusammen mit seiner Ehefrau zur Einkommensteuer. Das Kindergeld wurde nicht ganzjährig gewährt.

Begründung:

Die Familienkasse hält die Frage für grundsätzlich bedeutsam, ob eine kurzfristige und damit unbeachtliche Unterbrechung des gewöhnlichen Aufenthalts vorliegt, wenn ein Arbeitnehmer kurze Zeit nach Beendigung seiner Entsendung ins Inland erneut hierhin entsendet wird.

Nach § 9 Satz 1 AO hat jemand den gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Als gewöhnlicher Aufenthalt ist dabei stets und von Beginn an ein zeitlich zusammenhängender Aufenthalt von mehr als sechs Monaten Dauer anzusehen; kurzfristige Unterbrechungen bleiben unberücksichtigt (§ 9 Satz 2 AO). Nach dem vom FG und der Familienkasse in Bezug genommenen BFH-Urteil  ist ein zeitlich zusammenhängender Aufenthalt von mehr als sechs Monaten i.S. des § 9 Satz 2 AO dann gegeben, wenn der Aufenthalt über diese Zeitspanne hinaus erfolgt; kurzfristige Unterbrechungen werden bei der Berechnung der Frist mitgerechnet. Der „äußerlich erkennbare Zusammenhang” dieses Aufenthalts ist nicht durch eine konkrete und in ihrem Maß an der Sechsmonats-Grenze orientierte Zeitgrenze für die (unschädliche) Abwesenheit zu ergänzen. Vielmehr ist eine einzelfallbezogene zeitliche Gewichtung der kurzfristigen Unterbrechung unter Berücksichtigung der Dauer des Gesamtaufenthalts maßgebend.

Aus den Ausführungen der Familienkasse wird nicht deutlich, weshalb der äußerlich erkennbare Zusammenhang eines Aufenthalts im Falle aufeinanderfolgender Entsendungen –in Abweichung von diesen Grundsätzen– nicht unter einzelfallbezogener zeitlicher Gewichtung der Gesamtaufenthaltsdauer auf der einen und der Unterbrechungsdauer auf der anderen Seite beurteilt werden soll. Vielmehr stellt die Familienkasse lediglich einerseits die Behauptung auf, dass eine Entsendung immer nur vorübergehenden Charakter habe, während sie andererseits Unterbrechungsgründe (z.B. Urlaub, Abbau von Überstunden) darlegt, die eher gegen einen vorübergehenden Aufenthalt sprechen. Ein weiterer Klärungsbedarf lässt sich auch nicht aus dem Argument ableiten, dass durch eine dem Verständnis der Familienkasse widersprechende Auslegung des § 9 Satz 2 AO eine Umgehung der Sozialversicherungspflicht gefördert werde. Insoweit wird aus dem Vortrag der Familienkasse nicht deutlich, weshalb es Aufgabe des einkommensteuerrechtlichen Kindergeldrechts sein sollte, auf solche Gestaltungen zu reagieren, obwohl das Sozialversicherungsrecht dies offenbar nicht tut.

Im Übrigen hat der BFH indirekt bestätigt, dass auch mehrere aufeinanderfolgende Entsendungszeiträume einen zeitlich zusammenhängenden Aufenthalt i.S. des § 9 Satz 2 AO bilden können, sofern objektive Umstände festgestellt werden, die für einen solchen Zusammenhang und eine Fortdauer des Anlasses sprechen

 

Gewöhnlicher Aufenthalt kraft Aufenthaltsdauer

Ein zeitlich zusammenhängender Aufenthalt von mehr als 6 Monaten i.S. des § 9 Satz 2 AO ist gegeben, wenn der Aufenthalt über diese Zeitspanne hinaus erfolgt; kurzfristige Unterbrechungen werden bei der Berechnung der Frist mitgerechnet. Der "äußerlich erkennbare Zusammenhang" dieses Aufenthalts ist nicht durch eine konkrete und in ihrem Maß an der 6-Monats-Grenze orientierten Zeitgrenze für die (unschädliche) Abwesenheit zu ergänzen. Vielmehr ist eine einzelfallbezogene zeitliche Gewichtung der kurzfristigen Unterbrechung unter Berücksichtigung der Dauer des Gesamtaufenthalts maßgebend.

BFH Urteil vom 22.06.2011 I R 26/10 BFHNV 2011 S. 2001

Begründung:

Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG 1991/1997 sind natürliche Personen, die im Inland einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, unbeschränkt einkommensteuerpflichtig. A hatte in den Streitjahren wegen des jeweils zeitlich zusammenhängenden Aufenthalts von mehr als sechs Monaten Dauer im Inland ihren gewöhnlichen Aufenthalt.

Der gewöhnliche Aufenthalt einer Person befindet sich gemäß § 9 Satz 1 AO dort, wo sie sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass sie an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Als ein solcher Aufenthalt ist stets und von Beginn an ein zeitlich zusammenhängender Aufenthalt von mehr als sechs Monaten anzusehen (§ 9 Satz 2 AO), wenn es sich nicht um einen Aufenthalt für private Zwecke handelt (§ 9 Satz 3 AO).

Ein zeitlich zusammenhängender Aufenthalt von mehr als sechs Monaten i.S. des § 9 Satz 2 AO ist gegeben, wenn der Aufenthalt über diese Zeitspanne erfolgt; dabei werden kurzfristige Unterbrechungen bei der Berechnung der Frist mitgerechnet. Damit kommt es auf die objektive Dauer des Aufenthalts an, unabhängig von subjektiven Vorstellungen und Plänen des Steuerpflichtigen.

Die Frist, die bei einer Überschreitung rückwirkend auf den ersten Aufenthaltstag als Anknüpfungspunkt für den Tatbestand unbeschränkter Steuerpflicht dient, muss nicht innerhalb eines Kalenderjahres bzw. Veranlagungszeitraums überschritten werden; der 31. Dezember eines Jahres ist daher keine Zeitgrenze.  f

Wenn für diese auf die objektive Dauer des Aufenthalts bezogene Frist des § 9 Satz 2 AO kurzfristige Unterbrechungen unberücksichtigt bleiben (§ 9 Satz 2 Halbsatz 2 AO), ist für eine Abgrenzung erheblich, ob der Aufenthalt trotz der Unterbrechung nach den objektiven Umständen (z.B. der Fortdauer des Anlasses für den Aufenthalt) noch als zusammenhängend angesehen werden kann. Dabei ist anerkannt, dass bei den insoweit maßgebenden Gesamtumständen z.B. übliche Familienheimfahrten und urlaubsbedingte Abwesenheitszeiten einem zusammenhängenden Aufenthalt nicht entgegenstehe.

Teilweise wird allerdings dieser "äußerlich erkennbare Zusammenhang" des Aufenthalts (Deppe, StuW 1982, 332, 335) durch eine konkrete Zeitgrenze für die Abwesenheit ergänzt, so dass von einer kurzfristigen Unterbrechung bei einer Dauer von mehr als zwei bis drei Wochen nicht mehr gesprochen werden könne.