Verletzung des rechtlichen Gehörs durch Entscheidung im vereinfachten Verfahren nach § 94a Satz 1 FGO ohne vorherige Anordnung

Das FG verletzt den Anspruch eines Beteiligten auf rechtliches Gehör, wenn es gemäß § 94a Satz 1 FGO im vereinfachten Verfahren ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheidet, ohne dem Beteiligten zuvor seine dahingehende Absicht und den Zeitpunkt mitzuteilen, bis zu dem er sein Vorbringen in den Prozess einführen kann.

Das Gericht erfüllt diese Hinweispflicht jedenfalls gegenüber einem nicht fachkundig vertretenen Beteiligten nicht, wenn es nur darauf hinweist, “alsbald ein Urteil nach billigem Ermessen gemäß § 94a FGO” fällen zu wollen und eine Frist ohne weitere Erläuterung (“Frist: 4 Wochen”) einräumt.

BUNDESFINANZHOF Beschluss vom 6.6.2016, III B 92/15

Sachverhalt:

Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) ist die Mutter einer im September 1989 geborenen Tochter (T). T nahm an einem siebensemestrigen berufsbegleitenden Studiengang teil, brach diesen jedoch vorzeitig ab.

Die Beklagte und Beschwerdegegnerin (Familienkasse) hob die zugunsten der Klägerin für T erfolgte Kindergeldfestsetzung mit Bescheid vom 6. Januar 2014 auf und forderte das insoweit für den Zeitraum Juni 2013 bis November 2013 bereits ausbezahlte Kindergeld in Höhe von 1.104 EUR von der Klägerin zurück. Der Bescheid wurde bestandskräftig.

Ein insoweit wegen Steuerhinterziehung und Betrugs durchgeführtes strafrechtliches Ermittlungsverfahren wurde nach § 153 Abs. 1 der Strafprozessordnung wegen Geringfügigkeit eingestellt. Mit weiterem Bescheid vom 5. Januar 2015 setzte die Familienkasse gegen die Klägerin Hinterziehungszinsen in Höhe von 25 EUR fest. Im sich anschließenden Klageverfahren machte die Klägerin im Wesentlichen geltend, sie sei zwar bereit, die 25 EUR zu zahlen, wehre sich aber gegen den Vorwurf der Steuerhinterziehung. Ihre Tochter habe bereits ein eigenes Leben geführt, den Ausbildungsabbruch nicht rechtzeitig mitgeteilt und diesen erst auf mehrfache Nachfrage auf das Ende des Schuljahres 2012/2013 datiert.

Entgegen der formblattmäßigen Verfügung des Vorsitzenden wies das Finanzgericht (FG) nur die Familienkasse, nicht hingegen die Klägerin darauf hin, dass der Rechtsstreit gemäß §§ 5 Abs. 3 Satz 1, 6 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) auf den Einzelrichter übertragen werden kann. Mit Beschluss vom 1. Juni 2015 wurde der Rechtsstreit auf den Einzelrichter übertragen. Dieser legte den Beteiligten in einem Schreiben vom 1. Juni 2015 seine Rechtsauffassung dar. Ferner enthielt das Schreiben folgenden Zusatz: “Es wird darauf hingewiesen, dass das Gericht bei einem Streitwert von 25,00 EUR alsbald ein Urteil nach billigem Ermessen gemäß § 94a FGO fällen wird. Frist: 4 Wochen”. Mit Schreiben vom 4. Juli 2015 machte die Klägerin weitere Ausführungen zur Sache. Sodann wies der Einzelrichter die Klage am 29. Juli 2015 gemäß § 94a FGO ohne mündliche Verhandlung ab.

Begründung:

Das FG hat das grundrechtsgleiche Recht der Klägerin auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes –GG–) verletzt, da es ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, ohne dies der Klägerin zuvor in hinreichender Deutlichkeit mitzuteilen. Hierin liegt ein Verfahrensmangel, auf dem das angefochtene Urteil beruht (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) begründet Art. 103 Abs. 1 GG zwar keinen Anspruch auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung, stellt jedoch sicher, dass sich jeder Verfahrensbeteiligte vor dem Erlass einer gerichtlichen Entscheidung zu dem ihr zugrunde liegenden Sachverhalt äußern und Anträge stellen kann. Insoweit hielt es das BVerfG in einem Fall, in dem ein Zivilgericht gemäß § 495a der Zivilprozessordnung (ZPO) im vereinfachten Verfahren ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entschieden hatte, für unbeachtlich, dass diese Prozessrechtsnorm selbst eine Anordnung des schriftlichen Verfahrens nicht vorschreibt. Denn es leitete eine dahingehende Pflicht des Gerichts unmittelbar aus Art. 103 Abs. 1 GG ab. Zur Begründung verwies es darauf, dass den Parteien sonst die Möglichkeit genommen werde, einen Antrag auf mündliche Verhandlung gemäß § 495a Satz 2 ZPO zu stellen. Um dieses Antragsrecht nicht einzuschränken, muss das Gericht, wenn es sich für ein schriftliches Verfahren entscheidet, den Parteien seine Absicht und den Zeitpunkt mitteilen, bis zu dem die Parteien ihr Vorbringen in den Prozess einführen können.

Im Streitfall hat das FG dieser Hinweispflicht nicht genügt. Zum einen ist aus dem Hinweis “alsbald ein Urteil nach billigem Ermessen gemäß § 94a FGO fällen” zu wollen, jedenfalls bei einem nicht fachkundig vertretenen Beteiligten –wie im Streitfall der Klägerin– nicht mit hinreichender Deutlichkeit die Absicht des Gerichts erkennbar, im schriftlichen Verfahren entscheiden zu wollen. Zum anderen lässt sich aus dem apodiktischen Hinweis “Frist: 4 Wochen” nicht mit hinreichender Klarheit ableiten, dass es sich insoweit um die Frist handelt, bis zu der die Beteiligten ihr Vorbringen noch in den Prozess einführen können; dies gilt erst recht für nicht fachkundig vertretene Beteiligte. Kein Verfahrensfehler ist gegeben, soweit das FG den Rechtsstreit auf den Einzelrichter übertragen hat, ohne die Klägerin vorher anzuhören. Eine solche vorherige Anhörung ist in § 6 Abs. 1 FGO –anders als im Fall der Rückübertragung nach § 6 Abs. 3 FGO– nicht vorgesehen, was den Schluss zulässt, dass der Gesetzgeber bei der Übertragung von einer Anhörung absehen wollte.

Im Übrigen weist der Senat –ohne Bindungswirkung– auf Folgendes hin. Hinsichtlich des subjektiven Tatbestands der Steuerhinterziehung kommt bei der Prüfung des Vorliegens eines bedingten Vorsatzes der Abgrenzung zur (bewussten) Fahrlässigkeit besondere Bedeutung zu (s. hierzu etwa Ransiek in Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 AO Rz 610 ff.). Entscheidend für das Vorliegen des bedingten Vorsatzes ist dabei, dass der Täter nicht auf die Richtigkeit seiner Angaben vertraut, sondern es wenigstens ernsthaft für möglich hält und billigt, dass er die Finanzbehörde über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis lässt (s. hierzu Ransiek in Kohlmann, a.a.O., § 370 AO Rz 614, 625). Insoweit könnte bei der Gesamtwürdigung der Umstände insbesondere auch von Bedeutung sein,
durch welches Ereignis und an welchem Tag genau der Studiengang abgebrochen wurde sowie wann die Ausschulung erfolgte,
ob und gegebenenfalls in welcher Form und Art und Weise der Informationsaustausch zwischen T und der Klägerin vereinbart war und tatsächlich stattfand,
wann die Klägerin von dem genauen Abbruch- und dem Ausschulungstermin erfuhr oder ab wann ihr sonstige Umstände bekannt wurden, die auf einen vorzeitigen Abbruch des Studiengangs hindeuteten, und
wann die Klägerin vor Abbruch des berufsbegleitenden Studiengangs durch T die Familienkasse zuletzt über das Fortbestehen der Anspruchsvoraussetzungen informiert hatte.