Verletzung rechtlichen Gehörs im Zusammenhang mit der Beiziehung von Ermittlungsakten

Verletzung rechtlichen Gehörs im Zusammenhang mit der Beiziehung von Ermittlungsakten

BFH Beschluss vom 26.7.2012, IX B 164/11

Begründung:

Nach § 96 Abs. 2 FGO darf das Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten. Es handelt sich bei dieser Vorschrift um eine Ausgestaltung des durch Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes garantierten Anspruchs auf rechtliches Gehör, dessen Verletzung einen absoluten Revisionsgrund i.S. des § 119 Nr. 3 FGO darstellt. Zieht das Gericht die Akten eines anderen Verfahrens bei, so sind die Beteiligten davon zu benachrichtigen (§ 79 Abs. 2, § 155 i.V.m. § 273 Abs. 4 der Zivilprozessordnung). Eine Mitteilung über die Beiziehung von Akten kann selbst dann nicht unterbleiben, wenn den Prozessbeteiligten der Inhalt der Akten vollständig bekannt ist. Denn diese Kenntnis bedeutet noch nicht, dass sich die Beteiligten zu diesen Tatsachen äußern konnten. Sie müssen   im anhängigen Verfahren   von der möglichen Verwertung der Akten erfahren. Nur dann besteht für sie ein Anlass zur Stellungnahme unter Berücksichtigung des Inhalts der beigezogenen Akten.

Das FG hat strafrechtliche Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft X beigezogen, Teile davon kopiert und den FG-Akten hinzugefügt, ohne die Beteiligten darüber zu informieren oder ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme zu deren Inhalt zu geben. Die Klägerin erfuhr erst durch den Inhalt der Vorentscheidung von der Beiziehung. Das FG informierte die Klägerin darüber ausweislich der Sitzungsniederschrift vom 20. September 2011 nicht schon in der mündlichen Verhandlung. Entgegen der Auffassung des Beschwerdegegners und Beklagten (Finanzamt) sind die Ermittlungsakten dort nicht zum Gegenstand des Verfahrens gemacht worden, indem der Berichterstatter den Inhalt der Akten vortrug. Zwar mag es sein, dass sich der wesentliche Inhalt der Akten grundsätzlich im Tatbestand des angefochtenen Urteils widerspiegelt, das in seinem Tatbestand einen Hinweis auf die Beiziehung enthält. Indes folgt daraus nicht, dass der Berichterstatter den im Urteil formulierten Tatbestand auch wörtlich vorgelesen hat. Der Vortrag des wesentlichen Inhalts der Akten gemäß § 92 Abs. 2 FGO ist vielmehr eine gedrängte Darstellung des Sachverhalts (vgl. dazu Schallmoser in HHSp, § 92 FGO Rz 39; Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 92 Rz 6), die naturgemäß nicht jedes Detail enthält, das im Tatbestand des Urteils aufgeführt ist.


Das FG hat die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft nicht nur vorsorglich beigezogen, sondern sie ersichtlich für die Entscheidung des Streitfalls als ergiebig angesehen und verwertet. Es hat auf S. 15 seines Urteils auf die Ermittlungsakten explizit Bezug genommen und ihnen Hinweise zu den Lebenshaltungskosten der Klägerin entnommen, die in die Gesamtwürdigung des Sachverhalts offenkundig eingeflossen sind. So stellt das Urteil auf S. 28 unten maßgeblich auf den "gemeinsam gepflegten Lebensstil" ab.

Die Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs ist überdies schlüssig erhoben worden und enthält den substantiierten Vortrag der Klägerin, zu welchem Inhalt der vom FG beigezogenen und ohne ihr Wissen verwerteten Ermittlungsakten sie sich nicht hat äußern können und was sie bei ausreichender Gewährung des rechtlichen Gehörs noch zusätzlich vorgetragen hätte und dass bei der Berücksichtigung ihres Vorbringens eine andere Entscheidung in der Sache möglich gewesen wäre (zu den Darlegungsvoraussetzungen vgl. zusammenfassend.