Zivilprozesskosten als außergewöhnliche Belastungen

Kosten eines Arzthaftungsprozesses können als außergewöhnliche Belastungen zu berücksichtigen sein, wenn der Steuerpflichtige ohne die Geltendmachung des (vermeintlichen) Anspruchs Gefahr liefe, seine Existenzgrundlage zu verlieren oder seine lebensnotwendigen Bedürfnisse nicht mehr befriedigen zu können.

Davon kann beispielsweise auszugehen sein, wenn die Zivilklage auf eine Erwerbsunfähigkeitsrente oder eine existentiell wichtige Entschädigung als Ersatz für entgangene oder entgehende Einnahmen zielt und ein Werbungskostenabzug der streitigen Aufwendungen nicht in Betracht kommt.

Ansprüche wegen immaterieller Schäden betreffen den existentiellen Bereich des § 33 EStG hingegen nicht.

BFH Urteil vom 17.12.2015 – VI R 78/13

Sachverhalt:

Streitig ist, ob im Zusammenhang mit einem Arzthaftungsprozess angefallene Gutachterkosten als außergewöhnliche Belastung zu berücksichtigen sind.Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) beantragte, Kosten für ein Gutachten im Rahmen eines Arzthaftungsprozesses in Höhe von 1.500 EUR bei der Einkommensteuerfestsetzung für das Streitjahr (2010) als außergewöhnliche Belastungen gemäß § 33 des Einkommensteuergesetzes (EStG) zu berücksichtigen. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt –FA–) berücksichtigte die geltend gemachten Aufwendungen jedoch nicht. Das Finanzgericht (FG) gab der nach erfolglosem Vorverfahren erhobenen Klage statt. Nach der grundlegenden Änderung der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) zur Anerkennung von Aufwendungen für einen Zivilprozess als außergewöhnliche Belastungen seien die im Rahmen des von der Klägerin angestrengten Zivilprozesses für die Erstattung eines Gutachtens geleisteten Kosten nach § 33 EStG abzugsfähig. Denn der Prozess sei von der Klägerin nicht mutwillig oder leichtfertig angestrengt worden.

Begründung:

Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung –FGO–).

Erwachsen einem Steuerpflichtigen zwangsläufig größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse, gleicher Vermögensverhältnisse und gleichen Familienstandes (außergewöhnliche Belastung), so wird auf Antrag die Einkommensteuer in bestimmtem Umfang ermäßigt (§ 33 Abs. 1 EStG). Gemäß § 33 Abs. 2 Satz 1 EStG erwachsen dem Steuerpflichtigen Aufwendungen zwangsläufig, wenn er sich ihnen aus rechtlichen, tatsächlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann und soweit die Aufwendungen den Umständen nach notwendig sind und einen angemessenen Betrag nicht übersteigen. Ziel des § 33 EStG ist es, zwangsläufige Mehraufwendungen für den existenznotwendigen Grundbedarf zu berücksichtigen, die sich wegen ihrer Außergewöhnlichkeit einer pauschalen Erfassung in allgemeinen Freibeträgen entziehen. Aus dem Anwendungsbereich des § 33 EStG ausgeschlossen sind dagegen die üblichen Aufwendungen der Lebensführung, die in Höhe des Existenzminimums durch den Grundfreibetrag abgegolten

Bei den Kosten eines Zivilprozesses sprach nach der langjährigen Rechtsprechung des BFH eine Vermutung gegen die Zwangsläufigkeit. Derartige Kosten wurden nur als zwangsläufig erachtet, wenn auch das die Zahlungsverpflichtung oder den Zahlungsanspruch adäquat verursachende Ereignis zwangsläufig war. Daran fehlte es nach der Rechtsprechung des BFH im Allgemeinen bei einem Zivilprozess. Vielmehr sei es in der Regel der freien Entscheidung der (Vertrags-)Parteien überlassen, ob sie sich zur Durchsetzung oder Abwehr eines zivilrechtlichen Anspruchs einem Prozess(kosten)risiko aussetzten. Lasse sich der Steuerpflichtige trotz ungewissen Ausgangs auf einen Prozess ein, liege die Ursache für die Prozesskosten in seiner Entscheidung, das Prozesskostenrisiko in der Hoffnung auf ein für ihn günstiges Ergebnis in Kauf zu nehmen; es entspreche nicht Sinn und Zweck des § 33 EStG, ihm die Kostenlast zu erleichtern, wenn sich das im eigenen Interesse bewusst in Kauf genommene Risiko realisiert habe. Als zwangsläufige Aufwendungen erkannte die Rechtsprechung Zivilprozesskosten nur an, wenn der Prozess existenziell wichtige Bereiche oder den Kernbereich menschlichen Lebens berührte. Insbesondere wenn der Steuerpflichtige ohne den Rechtsstreit Gefahr liefe, seine Existenzgrundlage zu verlieren und seine lebensnotwendigen Bedürfnisse in dem üblichen Rahmen nicht mehr befriedigen zu können, könne er trotz unsicherer Erfolgsaussichten gezwungen sein, einen Zivilprozess zu führen

Demgegenüber nahm der Senat in seiner Entscheidung in die Unausweichlichkeit von Zivilprozesskosten unter der Voraussetzung an, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Diese Auffassung hat auch das FG in dem angefochtenen Urteil zugrunde gelegt.

Nach diesen Maßstäben ist auch im Streitfall zu prüfen, ob die im Zusammenhang mit einem Arzthaftungsprozess angefallenen Gutachterkosten als außergewöhnliche Belastungen zu berücksichtigen sind. Da das FG von anderen Grundsätzen ausgegangen ist, kann sein Urteil keinen Bestand haben. Es ist aufzuheben.

Das FG hat –von seinem Standpunkt aus zu Recht– keine Feststellungen dazu getroffen, ob und wenn ja in welchem Umfang der von der Klägerin angestrengte Arzthaftungsprozess existenziell wichtige Bereiche oder den Kernbereich menschlichen Lebens berührt. Mangels hinreichender tatsächlicher Feststellungen des FG vermag der Senat auch nicht selbst zu beurteilen, ob die Klägerin aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen gezwungen war, den angestrengten Arzthaftungsprozess zu führen. Die Sache ist deshalb an das FG zurückzuverweisen, damit es die erforderlichen Feststellungen –etwa durch Beiziehung der Prozessakten des Zivilprozesses– im zweiten Rechtsgang nachholen kann. Dabei hat es insbesondere in den Blick zu nehmen, ob und in welchen Umfang das zivilprozessuale Begehren der Klägerin auf den Ersatz von materiellen und immateriellen Schäden gerichtet ist. Soweit die Zivilklage der Klägerin auf den Ersatz materieller Schäden gerichtet ist, hat das FG zu prüfen, ob die Klägerin ohne die Geltendmachung ihres (vermeintlichen) Anspruchs Gefahr gelaufen wäre, ihre Existenzgrundlage zu verlieren oder ihre lebensnotwendigen Bedürfnisse nicht mehr befriedigen zu können. Davon kann beispielsweise auszugehen sein, wenn die Klage auf eine Erwerbsunfähigkeitsrente oder eine existenziell wichtige Entschädigung als Ersatz für entgangene oder entgehende Einnahmen zielt und ein Werbungskostenabzug der streitigen Aufwendungen nicht in Betracht kommt. Ansprüche wegen immaterieller Schäden betreffen hingegen regelmäßig nicht den existenziellen Bereich i.S. des § 33 EStG. Dies gilt jedenfalls dann, wenn sie wie das „Schmerzensgeld” auf den Ausgleich von Nichtvermögensschäden wegen der Beeinträchtigung der körperlichen Gesundheit gerichtet sind. Sollte das zivilprozessuale Begehren der Klägerin sowohl existenziell wichtige Bereiche als auch solche ohne einen solchen Bezug betreffen, sind zur Ermittlung der als außergewöhnliche Belastung zu berücksichtigenden Rechtsverfolgungskosten die Summe der Streitwerte der Klageanträge ins Verhältnis zu setzen.

Zivilprozesskosten als außergewöhnliche Belastungen

Aufwendungen für einen Zivilprozess sind ausnahmsweise als außergewöhnliche Belastungen anzuerkennen, wenn der Prozess existenziell wichtige Bereiche oder den Kernbereich menschlichen Lebens berührt. Liefe der Steuerpflichtige ohne den Rechtsstreit Gefahr, seine Existenzgrundlage zu verlieren, und seine lebensnotwendigen Bedürfnisse in dem üblichen Rahmen nicht mehr befriedigen zu können, kann er trotz unsicherer Erfolgsaussichten gezwungen sein, einen Zivilprozess zu führen.

Sind die Kosten für einen Zivilprozess nur zum Teil als außergewöhnliche Belastungen abziehbar, ist der abziehbare Teil der Kosten mit Hilfe der Streitwerte der einzelnen (Klage-)Anträge zu ermitteln.

BFH Urteil vom 19.11.2015 – VI R 42/14 BFH/NV 2016, 739

Sachverhalt:

Der Kläger, Revisionsbeklagte und Anschlussrevisionskläger (Kläger) erlitt im Jahr 2009 mit einem von der Firma X-GmbH hergestellten Fahrrad, das er am 8. Juli 2008 bei der Firma R erworben hatte, einen Verkehrsunfall. Der Kläger hatte am 18. Juli 2008 bei der R eine Inspektion des Fahrrads durchführen lassen. Am 14. April 2009 wies er die R auf Schleifspuren am hinteren Schutzblech und am dort befestigten Kabelkanal sowie auf einen zu geringen Abstand des Schutzblechs zum Hinterrad hin. Daraufhin setzte die R die Halterungen des Schutzblechs hoch.

Der Kläger stürzte am 6. Juni 2009 mit dem Fahrrad und wurde stationär im Krankenhaus behandelt. Es folgten weitere Operationen im Bereich des Oberarms und der Schulter. Der Unfall führte zu einer Schwerbehinderung des Klägers mit einem Grad der Behinderung von 50.Der Kläger beauftragte noch im Jahr 2009 einen Gutachter mit der Ermittlung der Ursache des Fahrradunfalls. Im Jahr 2010 beantragte der Kläger beim Landgericht L die Durchführung eines selbständigen Beweisverfahrens, in dem Beweis über verschiedene Fragen zur Ursache des Fahrradunfalls und zur Verantwortlichkeit der X-GmbH und der R erhoben werden sollte. Das LG erließ den Beweisbeschluss am 24. August 2010. Der Gutachter kam in dem selbständigen Beweisverfahren zu dem Ergebnis, dass ein Produktfehler bei dem vom Kläger erworbenen Fahrrad vorgelegen habe. Der Abstand zwischen dem hinteren Schutzblech und dem Rahmen sowie dem Reifen sei zu gering gewesen. Das Schutzblech sei ferner mangelhaft befestigt gewesen. Die Verkehrssicherheit des Fahrrads sei hierdurch beeinträchtigt worden.

Begründung:

Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung –FGO–). Der Senat kann auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen des FG nicht beurteilen, ob die vom Kläger in Zusammenhang mit den zivilrechtlichen Auseinandersetzungen wegen des Fahrradunfalls geltend gemachten Kosten als außergewöhnliche Belastungen zu berücksichtigen sind.

Erwachsen einem Steuerpflichtigen zwangsläufig größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse, gleicher Vermögensverhältnisse und gleichen Familienstandes (außergewöhnliche Belastung), so wird auf Antrag die Einkommensteuer in bestimmtem Umfang ermäßigt (§ 33 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes –EStG–). Gemäß § 33 Abs. 2 Satz 1 EStG erwachsen dem Steuerpflichtigen Aufwendungen zwangsläufig, wenn er sich ihnen aus rechtlichen, tatsächlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann und soweit die Aufwendungen den Umständen nach notwendig sind und einen angemessenen Betrag nicht übersteigen. Ziel des § 33 EStG ist es, zwangsläufige Mehraufwendungen für den existenznotwendigen Grundbedarf zu berücksichtigen, die sich wegen ihrer Außergewöhnlichkeit einer pauschalen Erfassung in allgemeinen Freibeträgen entziehen. Aus dem Anwendungsbereich des § 33 EStG ausgeschlossen sind dagegen die üblichen Aufwendungen der Lebensführung, die in Höhe des Existenzminimums durch den Grundfreibetrag abgegolten sind

Bei den Kosten eines Zivilprozesses sprach nach der langjährigen Rechtsprechung des BFH eine Vermutung gegen die Zwangsläufigkeit. Solche Kosten wurden nur als zwangsläufig erachtet, wenn auch das die Zahlungsverpflichtung oder den Zahlungsanspruch adäquat verursachende Ereignis zwangsläufig war. Daran fehlte es nach der Rechtsprechung des BFH im Allgemeinen bei einem Zivilprozess. Als zwangsläufige Aufwendungen erkannte die Rechtsprechung Zivilprozesskosten nur an, wenn der Prozess existenziell wichtige Bereiche oder den Kernbereich menschlichen Lebens berührte. Liefe der Steuerpflichtige ohne den Rechtsstreit Gefahr, seine Existenzgrundlage zu verlieren und seine lebensnotwendigen Bedürfnisse in dem üblichen Rahmen nicht mehr befriedigen zu können, könne er trotz unsicherer Erfolgsaussichten gezwungen sein, einen Zivilprozess zu führen.

Demgegenüber nahm der Senat in seiner Entscheidung die Unausweichlichkeit von Zivilprozesskosten unter der Voraussetzung an, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg biete und nicht mutwillig erscheine. Diese Auffassung hat auch das FG dem angefochtenen Urteil zugrunde gelegt. Der Senat hält an seiner in dem Urteil vertretenen Auffassung allerdings nicht mehr fest.

Nach diesen Maßstäben ist auch im Streitfall zu prüfen, ob die geltend gemachten Kosten für die zivilprozessualen Auseinandersetzungen als außergewöhnliche Belastungen zu berücksichtigen sind. Zivilprozesskosten sind demnach nur insoweit abziehbar, als der Prozess existenziell wichtige Bereiche oder den Kernbereich menschlichen Lebens berührt. Liefe der Steuerpflichtige ohne den Rechtsstreit Gefahr, seine Existenzgrundlage zu verlieren und seine lebensnotwendigen Bedürfnisse in dem üblichen Rahmen nicht mehr befriedigen zu können, kann der Steuerpflichtige auch bei unsicheren Erfolgsaussichten aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen gezwungen sein, einen Zivilprozess zu führen, sodass die Prozesskosten zwangsläufig i.S. von § 33 Abs. 2 Satz 1 EStG erwachsen. Da das FG von anderen Grundsätzen ausgegangen ist, kann sein Urteil keinen Bestand haben. Es ist aufzuheben.

Soweit ein Abzug der Zivilprozesskosten nach den vorgenannten Grundsätzen in Betracht kommt, wird das FG im zweiten Rechtsgang auch nochmals zu prüfen haben, ob die vom Kläger geltend gemachten Prozesskosten notwendig waren.

Nach § 33 Abs. 2 Satz 1 EStG sind außergewöhnliche Belastungen nur insoweit abzugsfähig, als sie notwendig sind und einen angemessenen Betrag nicht überschreiten). Das FG hat in seinem Urteil die Notwendigkeit der geltend gemachten Kosten zwar bejaht. Es hat seine diesbezügliche Auffassung aber nicht weiter begründet und auch insoweit keine ausreichenden Feststellungen getroffen.