Zur Schätzungsbefugnis bei Buchführungsmängeln

Zur Schätzungsbefugnis bei Buchführungsmängeln

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 14.12.2011, XI R 5/10

Begründung:

Die Finanzbehörde hat die Besteuerungsgrundlagen zu schätzen, soweit sie diese nicht ermitteln oder berechnen kann (§ 162 Abs. 1 Satz 1 AO). Zu schätzen ist insbesondere dann, wenn der Steuerpflichtige über seine Angaben keine ausreichende Aufklärung zu geben vermag oder weitere Auskunft oder eine Versicherung an Eides statt verweigert oder seine Mitwirkungspflicht nach § 90 Abs. 2 AO verletzt (§ 162 Abs. 2 Satz 1 AO). Das Gleiche gilt u.a. dann, wenn der Steuerpflichtige Bücher oder Aufzeichnungen, die er nach den Steuergesetzen zu führen hat, nicht vorlegen kann oder wenn die Buchführung oder die Aufzeichnungen der Besteuerung nicht nach § 158 AO zugrunde gelegt werden können (§ 162 Abs. 2 Satz 2 AO).

Nach § 158 AO sind der Besteuerung die Buchführung und die Aufzeichnungen des Steuerpflichtigen, die den Vorschriften der §§ 140 bis 148 AO entsprechen, zugrunde zu legen, soweit nach den Umständen des Einzelfalls kein Anlass besteht, ihre sachliche Richtigkeit zu beanstanden. Eine formell ordnungsmäßige Buchführung hat die Vermutung der sachlichen Richtigkeit für sich.

Die Buchungen und die sonst erforderlichen Aufzeichnungen sind vollständig, richtig, zeitgerecht und geordnet vorzunehmen (§ 146 Abs. 1 Satz 1 AO). Kasseneinnahmen und Kassenausgaben sollen überdies täglich festgehalten werden (§ 146 Abs. 1 Satz 2 AO). Kassenaufzeichnungen müssen so beschaffen sein, dass ein Buchsachverständiger jederzeit in der Lage ist, den Sollbestand mit dem Istbestand der Geschäftskasse zu vergleichen. Das Kassenbuch ist wesentlicher Teil der Buchführung, zumal wenn der Steuerpflichtige nach der Art seines Unternehmens vorwiegend Bargeschäfte tätigt.

Nach § 22 Abs. 1 Satz 1 UStG ist der Unternehmer verpflichtet, zur Feststellung der Steuer und der Grundlagen ihrer Berechnung Aufzeichnungen zu machen. Dabei ist u.a. ersichtlich zu machen, wie sich die Entgelte auf die steuerpflichtigen Umsätze, getrennt nach Steuersätzen, und auf die steuerfreien Umsätze verteilen (§ 22 Abs. 2 Nr. 1 Satz 2 UStG).

Ergibt die Würdigung des Sachverhalts, dass eine formell ordnungsmäßige Buchführung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ganz oder teilweise sachlich unrichtig ist, so kann das Ergebnis dieser Buchführung ganz oder teilweise verworfen werden. Die objektive Beweislast für die hierfür maßgeblichen steuererhöhenden Tatsachen trägt das FA.

Für die Prüfung der formellen Ordnungsmäßigkeit der Buchführung ist das Gesamtbild aller Umstände im Einzelfall maßgebend. Formelle Buchführungsmängel berechtigen nur zur Schätzung, soweit sie Anlass geben, die sachliche Richtigkeit des Buchführungsergebnisses anzuzweifeln.

 

Ist eine Buchführung ganz oder teilweise nicht nach § 158 AO der Besteuerung zugrunde zu legen, sind die Besteuerungsgrundlagen grundsätzlich nach § 162 Abs. 2 Satz 2 AO zu schätzen. Eine Schätzung scheidet allerdings dann aus, wenn die durch die Fehler der Buchführung verursachten Unklarheiten und Zweifel durch anderweitige zumutbare Ermittlungen beseitigt werden können. Im Rahmen einer solchen Ermittlung der tatsächlichen Verhältnisse richten sich die Anforderungen an die nötigen Beweise und die Beweislast nach den allgemein geltenden Grundsätzen.

 

Die Schätzungsgrundlagen müssen von der Finanzbehörde so dargelegt werden, dass ihre Nachprüfung möglich ist. Das zahlenmäßige Ergebnis der Schätzung muss auf Schlüssigkeit hin kontrollierbar sein. Eine vom FA vorgenommene Schätzung wird vom FG in vollem Umfang überprüft und ggf. durch eine eigene Schätzung ersetzt.

 

Soweit das FA vorträgt, der Kläger habe entgegen der aus § 147 Abs. 1 Nr. 5 AO folgenden Aufbewahrungspflicht keine Speise- und Getränkekarten aufbewahrt, ist allerdings zu beachten, dass der sachliche Umfang der Aufbewahrungspflicht in § 147 Abs. 1 AO grundsätzlich durch die Reichweite der zugrunde liegenden Aufzeichnungspflicht begrenzt wird.

 

 Die Pflicht zur Aufbewahrung von Unterlagen gemäß § 147 Abs. 1 AO ist akzessorisch. Das heißt, sie setzt stets eine Aufzeichnungspflicht voraus und besteht grundsätzlich nur im Umfang der Aufzeichnungspflicht. Eine eigenständige Pflicht zur Aufbewahrung von Unterlagen, die nicht mit einer Pflicht zur Aufzeichnung von Daten in Zusammenhang stehen, ist § 147 Abs. 1 AO nicht zu entnehmen. Durch die Abhängigkeit der Aufbewahrungspflicht von einer im Gesetz angeordneten Aufzeichnungspflicht wird der Umfang der aufzubewahrenden Unterlagen sachgemäß begrenzt. Diese Beschränkung trägt dem Erfordernis hinreichender Bestimmtheit der in § 147 Abs. 1 AO geregelten Aufbewahrungspflicht ebenso Rechnung wie der von Verfassungs wegen geforderten Verhältnismäßigkeit der Norm.

 

Zwar lässt der weite Wortlaut der Vorschrift die Deutung zu, dass nach ihr ohne Rücksicht auf eine Aufzeichnungpflicht sämtliche für die Besteuerung bedeutsamen Unterlagen aufzubewahren sind. Dementsprechend hat das FG München im Urteil vom 29. Oktober 2009  15 K 219/07 (Entscheidungen der Finanzgerichte 2011, 10) ohne nähere Begründung im dortigen Streitfall angenommen, durch die Nichtaufbewahrung von Speisekarten habe der Kläger gegen § 147 Abs. 1 Nr. 5 AO verstoßen. § 147 Abs. 1 Nr. 5 AO ist aber unter Berücksichtigung der generellen Akzessorietät der Aufbewahrungspflicht im Lichte der im Einzelfall jeweils bestehenden gesetzlichen Aufzeichnungspflichten einschränkend auszulegen. Danach müssen bei einer abstrakten Bestimmung der Reichweite der gesetzlichen Aufbewahrungspflicht nach § 147 Abs. 1 Nr. 5 AO nur solche sonstigen, also nicht unter § 147 Abs. 1 Nr. 1 bis Nr. 4a AO fallenden, Unterlagen aufbewahrt werden, die zum Verständnis und zur Überprüfung der für die Besteuerung gesetzlich vorgeschriebenen Aufzeichnungen im Einzelfall von Bedeutung sind.

 

Das FA hat in der Einspruchsentscheidung sowie in der Klageerwiderung auf die "nicht identische" Übertragung mehrerer Kassenbons in das Kassenbuch durch den Kläger und darauf hingewiesen, die Aufzeichnungen der Barausgaben seien nicht im zeitlichen Ablauf erfasst worden. Die Kassenaufzeichnungen hätten nicht den Abgleich des tatsächlichen Kassenbestands mit dem des buchmäßigen Kassenbestands (Kassenbuch) ermöglicht. Mit diesem für die Frage der formellen Ordnungsmäßigkeit der Buchführung maßgeblichen Vortrag hat sich das FG nicht erkennbar auseinandergesetzt, denn es hat sich in den Entscheidungsgründen weder mit der Verbuchung der Bareinnahmen noch mit der Führung des Kassenbuchs befasst. Zu diesen wesentlichen Umständen gehört im Streitfall insbesondere auch die Feststellung, ob der Kläger seiner Pflicht, Kasseneinnahmen und Kassenausgaben vollständig, richtig, zeitgerecht und geordnet aufzuzeichnen und die Kasseneinnahmen und Kassenausgaben täglich festzuhalten, nachgekommen ist. Zumal wenn vorwiegend Bargeschäfte getätigt worden sind, können Mängel in der Kassenbuchführung der gesamten Buchführung die Ordnungsmäßigkeit nehmen. Dies gilt umso mehr im vorliegenden Fall, in dem die Aufzeichnungen zugleich dazu dienten, die Umsätze entsprechend § 22 Abs. 2 Nr. 1 Satz 2 UStG nach unterschiedlichen Steuersätzen aufzuteilen.