Kein Kindergeld für behindertes Kind bei Fehlen hinreichender Nachweise

Ein berufsspezifisches Praktikum auf einem Reiterhof kann nicht als Berufsausbildung anerkannt werden, wenn der Nachweis fehlt, dass bei der Durchführung des Praktikums der Ausbildungscharakter im Vordergrund steht.

Ein Kindergeldanspruch besteht für ein volljähriges behindertes Kind, wenn der Grad der Behinderung 50 oder mehr beträgt und besondere Umstände nachgewiesen sind, aufgrund derer eine Erwerbstätigkeit unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes ausgeschlossen erscheint; bei einem unter frühkindlichen Autismus leidenden Kind kann dieser Nachweis u.a. durch ein Gutachten eines unabhängigen ärztlichen Sachverständigen geführt werden.

BFH Urteil vom 21.10.2015 – XI R 17/14 BFH/NV 2016, 190

Sachverhalt:

Die Beteiligten streiten darum, ob die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) für die Zeit von September 2010 bis November 2011 (Streitzeitraum) einen Anspruch auf Kindergeld betreffend ihre im Februar 1992 geborene Tochter X hat. Laut der Bescheinigung eines Facharztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie vom …. April 2013 ist X seit dem Jahr 1996 bei ihm in fachärztlicher Behandlung. Diagnostisch handele es sich um eine Autismus-Spektrum-Störung. X weise einen Behinderungsgrad (GdB) von „50 bis 80” auf.

Nach Angaben der Klägerin strebt X den Beruf der von der Deutschen Reiterlichen Vereinigung e.V. –dem Bundesverband für Pferdesport und Pferdezucht– geprüften Pferdepflegerin an. Nach der entsprechenden Ausbildungs- und Prüfungsordnung ist Voraussetzung für einen Antrag auf Zulassung zum Vorbereitungsdienst und zur Prüfung u.a. der Nachweis einer ca. zweijährigen hauptberuflichen Tätigkeit im Umgang mit und der Pflege von Pferden in einem Reit- oder Zuchtbetrieb oder der Nachweis einer mindestens dreijährigen nebenberuflichen Tätigkeit.

Begründung:

Die Revision ist unbegründet. Sie war daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung –FGO–).Das FG hat zu Recht den Anspruch der Klägerin auf Kindergeld verneint.Die Entscheidung des FG, dass ein Anspruch auf Kindergeld gemäß § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG ausscheidet, weil X nicht für einen Beruf ausgebildet wurde, ist zutreffend.

In Berufsausbildung befindet sich, wer sein Berufsziel noch nicht erreicht hat, sich aber ernsthaft und nachhaltig darauf vorbereitet. Dieser Vorbereitung dienen alle Maßnahmen, bei denen Kenntnisse, Fähigkeiten und Erfahrungen erworben werden, die als Grundlagen für die Ausübung des angestrebten Berufs geeignet sind. Hierzu zählen auch berufsspezifische Praktika, z.B. ein Anwaltspraktikum eines Jurastudenten oder eine Volontärtätigkeit, die ausbildungswillige Kinder vor Annahme einer vollbezahlten Beschäftigung gegen geringe Entlohnung absolvieren. Voraussetzung in diesen Fällen ist, dass der Ausbildungscharakter im Vordergrund steht und es sich nicht lediglich um ein gering bezahltes Arbeitsverhältnis handelt. Das FG ist bei seiner Entscheidung von diesen Rechtsgrundsätzen ausgegangen. Die von ihm vorgenommene Gesamtwürdigung aller Umstände des Streitfalls mit dem Ergebnis, dass die von X in der Zeit von September 2008 bis 2013 ausgeübte Praktikantentätigkeit auf dem Reiterhof nicht als Ausbildungsmaßnahme in diesem Sinne angesehen werden könne, hält einer revisionsrechtlichen Überprüfung stand und bindet daher den Senat (§ 118 Abs. 2 FGO).

Das FG hat hierzu ausgeführt, dass Voraussetzung für einen Antrag auf Zulassung zum Vorbereitungslehrgang und zur Prüfung zum Pferdepfleger zwar u.a. der Nachweis einer ca. zweijährigen hauptberuflichen Tätigkeit im Umgang mit und der Pflege von Pferden in einem Reit- oder Zuchtbetrieb oder der Nachweis einer mindestens dreijährigen nebenberuflichen Tätigkeit sei.

Im Streitfall habe das Praktikum von X einerseits im September 2010 bereits zwei Jahre angedauert, andererseits hätten sich keinerlei Anhaltspunkte dafür ergeben, dass es sich bei der Tätigkeit als Praktikantin lediglich um eine nebenberufliche Tätigkeit gehandelt habe. Die Klägerin habe trotz entsprechender Aufforderung seitens des Gerichts nicht nachgewiesen, dass bei dem Praktikum im Streitzeitraum der Ausbildungscharakter im Vordergrund gestanden habe. Die Bestätigung der Besitzerin des Reiterhofs vom 30. April 2013 treffe keine Aussage über die konkrete Tätigkeit von X im Streitzeitraum, geschweige denn über konkrete Ausbildungsinhalte in dieser Tätigkeit. Vielmehr werde lediglich bestätigt, dass X in den ersten zwei Jahren, also von September 2008 bis August 2010, in die Fütterung und Pflege der Tiere sowie in Arbeiten im Stall und auf den Koppeln unterwiesen worden sei und gegenwärtig, also im Jahr 2013, gefordert sei, im Team mitzuarbeiten. Seit ca. einem Jahr, also etwa seit April 2012, helfe sie bei Therapiestunden für Kinder. Zudem trainiere sie derzeit, also im Jahr 2013, intensiv das Longieren der Pferde. Die beabsichtigte Heranführung an theoretische Fachkenntnisse beziehe sich gleichfalls nicht auf den Streitzeitraum.

Die Klägerin habe auch nicht dargelegt, welche Kenntnisse, Fähigkeiten und Erfahrungen X konkret im Streitzeitraum vermittelt worden seien. Vielmehr habe sie sich auf eine Aufzählung von Ausbildungsinhalten beschränkt, ohne zu erläutern, wann diese vermittelt worden seien. Dabei enthalte die Aufzählung etliche Ausbildungsinhalte, die nach der Bestätigung vom 30. April 2013 bereits in den ersten zwei Jahren Gegenstand des Praktikums gewesen seien (Fütterung und Pflege der Tiere, Arbeiten im Stall und auf den Koppeln).

Diese tatsächliche Würdigung des FG ist möglich, verfahrensrechtlich einwandfrei zustande gekommen und verstößt nicht gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze. Sie ist deshalb für den BFH als Revisionsgericht bindend i.S. von § 118 Abs. 2 FGO, auch wenn sie nicht zwingend, sondern lediglich möglich ist.

Das FG hat ferner zutreffend entschieden, dass der Klägerin auch kein Kindergeld gemäß § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG zusteht, weil die entsprechenden Voraussetzungen nicht nachgewiesen sind.

Nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG besteht für ein volljähriges Kind ein Anspruch auf Kindergeld, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, und die Behinderung vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten ist.

Nach der Rechtsprechung des BFH ist ein Mensch behindert, wenn seine körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher seine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist (§ 2 Abs. 1 Satz 1 des Neunten Buchs Sozialgesetzbuch –SGB IX–). Der Nachweis der Behinderung kann dabei nicht nur durch Vorlage eines entsprechenden Schwerbehindertenausweises oder Feststellungsbescheids gemäß § 69 SGB IX sowie eines Rentenbescheids erfolgen, sondern auch in anderer Form wie beispielsweise durch Vorlage einer Bescheinigung bzw. eines Zeugnisses des behandelnden Arztes oder auch eines ärztlichen Gutachtens erbracht werden.

Ein Anscheinsbeweis reicht indessen nicht aus. Das FG soll dabei im Regelfall zur Erfüllung seiner Sachaufklärungspflicht ein ärztliches Gutachten einholen oder entsprechende Erkenntnisse durch Einvernahme der behandelnden Ärzte als Zeugen gewinnen und die Behinderung muss nach den gesamten Umständen des Einzelfalls für die fehlende Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt ursächlich sein.

Dem Kind muss es daher objektiv unmöglich sein, seinen (gesamten) Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit zu bestreiten. Die Ursächlichkeit der Behinderung kann grundsätzlich angenommen werden, wenn der GdB 50 oder mehr beträgt und besondere Umstände hinzutreten, aufgrund derer eine Erwerbstätigkeit unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes ausgeschlossen erscheint.

Im Zusammenhang mit einem arbeitslosen behinderten Kind hat der BFH entschieden, dass die Behinderung nicht die alleinige Ursache dafür sein muss, dass das Kind außerstande ist, sich selbst zu unterhalten; die erhebliche Mitursächlichkeit der Behinderung ist insoweit ausreichend.

Im Streitfall ist das FG bei der gebotenen Würdigung aller Umstände des Einzelfalls von diesen Grundsätzen ausgegangen. Seine Entscheidung, dass die Klägerin die insoweit erforderlichen Nachweise nicht erbracht hat, begegnet keinen revisionsrechtlichen Bedenken und bindet daher den Senat (§ 118 Abs. 2 FGO).

Das FG hat zutreffend hervorgehoben, dass die Klägerin durch Vorlage der Bescheinigung eines Facharztes nachgewiesen habe, dass der GdB bei X „50 bis 80” beträgt. Es hat zutreffend angenommen, dass sich aus der Diagnose „frühkindlicher Autismus” das Vorliegen der Behinderung bereits im Streitzeitraum ergibt. Das FG hat sich ferner ausreichend im Einzelnen mit allen ihm hierzu vorgelegten Unterlagen auseinandergesetzt (vgl. S. 15 des FG-Urteils) und schließlich entscheidend darauf abgestellt, dass es mangels Zustimmung der Klägerin zur Untersuchung des Kindes durch einen gerichtlich beauftragten ärztlichen Sachverständigen dem FG nicht möglich gewesen sei, zusätzliche Erkenntnisse über die Fähigkeit des Kindes, sich durch Erwerbstätigkeit selbst zu unterhalten, zu gewinnen. Dies entspricht den Vorgaben der höchstrichterlichen Rechtsprechung, wonach neben dem GdB weitere besondere Umstände vorliegen müssen, aufgrund derer eine Erwerbstätigkeit unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes als ausgeschlossen erscheint.