Der Kindergeldanspruch eines in Deutschland wohnhaften polnischen Staatsangehörigen für sein in Polen im Haushalt eines Pflegeelternteils lebendes Kind kann nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG i.V.m. Art. 67 der VO Nr. 883/2004, Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 durch den vorrangigen Kindergeldanspruch des Pflegeelternteils verdrängt werden.
Der Begriff der “beteiligten Personen” i.S. des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ist im Hinblick auf das Kindergeld nach dem EStG nach Art. 1 Buchst. i Nr. 1 Buchst. i und nicht nach Art. 1 Buchst. i Nr. 2 der VO Nr. 883/2004 zu bestimmen. Zu den “beteiligten Personen” gehören daher die nach dem nationalen Recht Anspruchsberechtigten und damit auch ein Pflegeelternteil i.S. der §§ 62 Abs. 1, 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG.
§ 32 Abs. 2 Satz 2 EStG, wonach ein im ersten Grad mit dem Steuerpflichtigen verwandtes Kind, das zugleich ein Pflegekind ist, vorrangig als Pflegekind zu berücksichtigen ist, findet im Kindergeldrecht weder direkt noch analog Anwendung.
BFH Urteil vom 15.6.2016, III R 60/12
Begründung:
Das FG hat zwar zu Recht eine Anspruchsberechtigung des Klägers bejaht (dazu 1.). Es fehlen aber für den Zeitraum Januar 2007 bis April 2010 hinreichende tatsächliche Feststellungen dazu, dass der Anspruch nicht (teilweise) durch vorrangige ausländische Ansprüche der Schwester oder des Schwagers des Klägers oder der Kindsmutter verdrängt wird (dazu 2.). Für den Zeitraum Mai 2010 bis November 2011 hat das FG zu Unrecht entschieden, eine vorrangige Anspruchsberechtigung der Schwester oder des Schwagers des Klägers als Pflegeeltern nach § 64 Abs. 2 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes in der im Streitzeitraum gültigen geltenden Fassung (EStG) komme nicht in Betracht, da diese eine Anspruchsberechtigung nach § 62 EStG voraussetze, die hier ausscheide. Denn der Kläger ist zwar nach nationalem Recht (§§ 62 ff. EStG) anspruchsberechtigt (dazu 3.). Der Schwester oder dem Schwager des Klägers könnte aber nach § 64 Abs. 2 EStG ein vorrangiger Kindergeldanspruch zustehen, sofern bei diesen im Streitzeitraum –was das FG im zweiten Rechtsgang noch festzustellen hat– tatsächlich ein Pflegekindschaftsverhältnis (§ 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG) zu S bestanden hat.
Der Kläger ist grundsätzlich kindergeldberechtigt. Nach den für den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen des FG (vgl. § 118 Abs. 2 FGO) erfüllt der Kläger –was zwischen den Beteiligten nicht streitig ist– für den gesamten Streitzeitraum die Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 EStG. Unerheblich ist dabei, dass S seinen Wohnsitz in Polen hat.
Anders als die Familienkasse meint, tritt die Anspruchsberechtigung des Klägers auch nicht aufgrund eines etwaigen Pflegekindschaftsverhältnisses i.S. des § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG zwischen seiner Schwester oder seinem Schwager (Pflegeelternteile) und dem S (Pflegekind) gemäß § 32 Abs. 2 Satz 2 EStG hinter die Anspruchsberechtigung der Pflegeelternteile zurück. Zwar ist nach § 32 Abs. 2 Satz 2 EStG ein im ersten Grad mit dem Steuerpflichtigen verwandtes Kind, das zugleich ein Pflegekind ist, vorrangig als Pflegekind zu berücksichtigen. Diese Bestimmung findet jedoch im Kindergeldrecht keine Anwendung, da § 63 Abs. 1 Satz 2 EStG nur auf § 32 Abs. 3 bis 5 EStG, nicht jedoch auf § 32 Abs. 2 EStG verweist. Sinn und Zweck des § 32 Abs. 2 EStG sprechen auch nicht dafür, dass § 63 Abs. 1 Satz 2 EStG insoweit eine planwidrige Regelungslücke enthält, zu deren Schließung der Rechtsgedanke des § 32 Abs. 2 Satz 2 EStG herangezogen werden könnte. § 32 Abs. 2 EStG bezweckt im Interesse einer Harmonisierung von Einkommensteuer- und Kindergeldrecht, eine früher mögliche Doppelberücksichtigung von Pflegekindern und angenommenen Kindern beim Kinderfreibetrag zu vermeiden (BTDrucks 13/1558, S. 155, zu Nr. 21c, zum Entwurf eines Jahressteuergesetzes 1996). Demgegenüber kann es beim Kindergeld zu keiner Doppelberücksichtigung des Pflegekindes bei einerseits dem Pflegeelternteil und andererseits dem leiblichen Elternteil kommen. Denn das Konkurrenzverhältnis zwischen mehreren Anspruchsberechtigten wird bereits über § 64 Abs. 1 und Abs. 2 EStG aufgelöst.