Für die Reichweite eines Vorläufigkeitsvermerks kommt es darauf an, wie der Adressat den materiellen Regelungsgehalt nach den ihm bekannten Umständen unter Berücksichtigung von Treu und Glauben verstehen konnte.
BFH Urteil vom 14.09.2017 – IV R 28/14 BFH/NV 2018, 1
Sachverhalt:
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist eine GbR. Sie ermittelte ihren Gewinn im Streitjahr durch Einnahmen-Überschussrechnung nach § 4 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes in der im Streitjahr geltenden Fassung (EStG). In der Erklärung zur gesonderten und einheitlichen Feststellung von Besteuerungsgrundlagen (Gewinnfeststellung) 2008, die sie bei dem Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt –FA–) einreichte, zog die Klägerin einen Investitionsabzugsbetrag nach § 7g EStG für die künftige Anschaffung eines betrieblich genutzten PKW in Höhe von 23.500 EUR ab. Die Klägerin erwarb den PKW am 8. Juni 2009. Das FA erließ am 18. Februar 2010 einen Gewinnfeststellungsbescheid 2008 für die Klägerin entsprechend ihren Angaben in der eingereichten Feststellungserklärung und stellte u.a. unter Berücksichtigung des Investitionsabzugsbetrags laufende Einkünfte aus Gewerbebetrieb in Höhe von… EUR fest. Der Bescheid erging nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 3 und 4 der Abgabenordnung (AO) wegen verfassungsrechtlicher Aspekte betreffend steuerliche Regelungen zu Arbeitszimmern, die Aufwandsentschädigung von Parlamentariern und das Zustandekommen des Haushaltsbegleitgesetzes teilweise vorläufig.
Im Rahmen des Gewinnfeststellungsverfahrens für das Folgejahr 2009 forderte das FA –zunächst erfolglos– Nachweise von der Klägerin dafür an, dass dieser PKW (fast) ausschließlich betrieblich genutzt werde. Am 15. April 2011 änderte das FA die Gewinnfeststellungsbescheide 2008 und 2009 dahingehend, dass der Investitionsabzugsbetrag nun nicht mehr anerkannt wurde.
Begründung:
Das FG hat dem Grunde nach zutreffend entschieden, dass der geänderte Gewinnfeststellungsbescheid 2008 vom 15. April 2011 mangels Einlegung eines Einspruchs bestandskräftig geworden ist (a) und keine Korrekturnorm eingreift, insbesondere keine Änderung wegen vorläufiger Feststellung (b) oder Vorliegens neuer Tatsachen (c) in Betracht kommt.
Der geänderte Gewinnfeststellungsbescheid 2008 vom 15. April 2011 ist bestandskräftig geworden.Nach den Feststellungen des FG hat die Klägerin –anders als bei dem am selben Tag geänderten Gewinnfeststellungsbescheid 2009– gegen den Gewinnfeststellungsbescheid 2008 vom 15. April 2011 keinen Einspruch eingelegt. Mit dem Vorbringen, ein gegen den Gewinnfeststellungsbescheid 2009 eingelegter Einspruch habe sich auch gegen den Gewinnfeststellungsbescheid 2008 gerichtet, kann die Klägerin im Revisionsverfahren nicht gehört werden. Denn diese Behauptung hat sie –wie das FA zutreffend einwendet– erstmals im Revisionsverfahren vorgebracht. Der Beurteilung des Revisionsgerichts unterliegen gemäß § 118 Abs. 2 FGO jedoch nur die Tatsachen, die sich aus dem Urteil der Tatsacheninstanz, hier also aus dem Urteil des FG, ergeben.
Das FG hat zu Recht die Änderbarkeit des Gewinnfeststellungsbescheides für 2008 vom 15. April 2011 nach § 165 Abs. 2 Satz 1 AO verneint. Nach § 165 Abs. 2 Satz 1 AO kann die Finanzbehörde eine Steuerfestsetzung aufheben oder ändern, soweit sie die Steuer vorläufig festgesetzt hat. Bei einem Vorläufigkeitsvermerk nach § 165 AO handelt es sich um eine unselbständige Nebenbestimmung zu einem Verwaltungsakt nach § 120 Abs. 1 AO. Die Voraussetzungen einer vorläufigen Steuerfestsetzung sind in § 165 Abs. 1 AO geregelt. Danach kommt eine vorläufige Steuerfestsetzung in Betracht, soweit ungewiss ist, ob die Voraussetzungen für die Entstehung einer Steuer eingetreten sind (§ 165 Abs. 1 Satz 1 AO), oder wenn einer der in § 165 Abs. 1 Satz 2 AO geregelten Tatbestände gegeben ist. Die Möglichkeit, einen Vorläufigkeitsvermerk nach § 165 AO zu setzen, besteht gemäß § 181 Abs. 1 Satz 1 AO auch für das Verfahren der gesonderten Feststellung von Besteuerungsgrundlagen..
§ 165 Abs. 1 Satz 3 AO verlangt in formeller Hinsicht für die Begründung des Vorläufigkeitsvermerks, dass dessen Umfang und Grund anzugeben sind. Diese Angaben dienen dem Rechtsschutzinteresse des Steuerpflichtigen. Er soll wissen, welche Umstände der endgültigen Festsetzung bzw. Feststellung entgegenstehen und hinsichtlich welcher als ungewiss betrachteter Tatsachen (bei § 165 Abs. 1 Satz 1 AO) sich das FA eine weitere Überprüfung vorbehält. Diese Angaben zeigen auch die Grenzen für die endgültige Festsetzung bzw. Feststellung auf.
Die Reichweite eines Vorläufigkeitsvermerks ergibt sich aus seiner Begründung oder ist aus anderen Umständen durch Auslegung zu bestimmen. Entscheidend ist –wie generell bei Verwaltungsakten–, wie der Adressat den materiellen Regelungsgehalt nach den ihm bekannten Umständen unter Berücksichtigung von Treu und Glauben verstehen konnte.
Sind die Formulierung des Vorläufigkeitsvermerks und die Erläuterungen in dem Bescheid nicht hinreichend klar, so kann sich die Wirksamkeit des Vermerks auch durch Würdigung der Umstände des Einzelfalls ergeben. Zu prüfen ist dabei, ob der Umfang des Vorläufigkeitsvermerks aus Sicht eines objektiven Empfängers hinreichend erkennbar war.
Bei der Frage, welchen Inhalt ein Verwaltungsakt hat, ist der Senat nicht nach § 118 Abs. 2 FGO an die Auslegung durch das FG gebunden. Diese Frage beantwortet das Revisionsgericht in eigener Zuständigkeit und kann ggf. die Auslegung durch das FG korrigieren. Diese Befugnis zur vollständigen eigenen Prüfung durch das Revisionsgericht gilt auch für den Vorläufigkeitsvermerk als unselbständige Nebenbestimmung des
Das FG hat zu Recht angenommen, dass der Gewinnfeststellungsbescheid 2008 vom 15. April 2011 wegen des Vorliegens der Voraussetzungen eines Investitionsabzugsbetrags für die Anschaffung eines PKW nicht vorläufig war. Die Klägerin als die Empfängerin des Bescheides konnte aus dem Inhalt des Änderungsbescheides zur Gewinnfeststellung 2008 vom 15. April 2011 nicht die Schlussfolgerung ziehen, dass die Feststellung hinsichtlich der Frage der (fast) ausschließlichen Nutzung des PKW zu betrieblichen Zwecken i.S. von § 7g Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Buchst. b EStG nur vorläufig sein sollte.
Aus dem Bescheid ergibt sich, dass das FA vorgenommene Änderungen auf zwei rechtliche Grundlagen gestützt hat. Zum Ersten wurden Änderungen nach § 7g Abs. 3 Satz 2 und Abs. 4 Satz 2 EStG bei der Gewinnermittlung vorgenommen, zum Zweiten galt ein Vorläufigkeitsvermerk und wurde eine vorläufige Regelung für endgültig erklärt. Diese beiden im Kopf des Bescheides zitierten Rechtsgrundlagen für vorgenommene Änderungen finden sich auch in den Erläuterungen wieder. Die Zuordnung der Erläuterungen zu diesen Grundlagen der Änderungen ist auch hinreichend klar und verständlich. So greifen die Erläuterungen den Aufbau der beiden genannten Rechtsgrundlagen auf. Es wird zunächst erläutert, weshalb Änderungen bei bisher gewährten Investitionsabzugsbeträgen vorgenommen werden. Darauf folgt –auch optisch durch einen eigenen Absatz abgesetzt und unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Regelungen über die vorläufige Festsetzung– die Erläuterung des Vorläufigkeitsvermerks – hier wegen des verfassungsgemäßen Zustandekommens des HBeglG 2004. Weiterhin wird erläutert, dass bisher vorläufige Regelungen wegen der Aufwandsentschädigung für Parlamentarier und der Regelungen über Arbeitszimmer nunmehr endgültig sind.
Wenn die Klägerin annimmt, die Regelung, wonach der Bescheid mit Ausnahme der in den Erläuterungen genannten Punkte endgültig sei, bedeute, dass die Ablehnung eines Investitionsabzugsbetrags mangels Nachweises der (fast) ausschließlich betrieblichen Nutzung nunmehr unter einen Vorläufigkeitsvermerk gestellt werde, folgt der Senat dem nicht. Denn dieses Verständnis vermengt die erkennbar voneinander zu trennenden Regelungsabschnitte des Verwaltungsakt, nämlich einerseits die vorgenommene Rückgängigmachung des bisher gewährten Investitionsabzugsbetrags mangels erforderlicher Nachweisführung durch den Steuerpflichtigen, andererseits die Anpassung von Vorläufigkeitsvermerken an geänderte Bedingungen.
Der Verwaltungsakt wäre bei Zugrundelegung des Verständnisses der Klägerin auch nicht mehr verständlich. Denn hätte das FA tatsächlich alle in den Erläuterungen genannten Punkte für vorläufig erklären wollen, die es nicht ausdrücklich für endgültig erklärte, so hätte es in den Erläuterungen keiner ausdrücklichen Begründung der Vorläufigkeit hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit des Zustandekommens des HBeglG 2004 mehr bedurft.
Weiterhin zeigt die Begründung des FA zur Rückgängigmachung des Investitionsabzugsbetrags, dass das FA dort gerade keinen Grund für einen Vorläufigkeitsvermerk sah, sondern eine abschließende Entscheidung als Ergebnis einer Beweiswürdigung treffen wollte.
Die Annahme der Klägerin, die teilweise Endgültigerklärung nach § 165 Abs. 2 Satz 2 AO in dem Bescheid vom 15. April 2011 könnte eine Vorläufigkeit hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzungen für den Investitionsabzugsbetrag nach § 165 Abs. 1 Satz 1 AO begründet haben, ist ausgeschlossen. Dies hätte zumindest eine Erwähnung des § 165 Abs. 1 Satz 1 AO als Rechtsgrundlage für die Vorläufigkeit erfordert. Außerdem kann eine (teilweise) Endgültigerklärung eines Vorläufigkeitsvermerks denklogisch nur dort erfolgen, wo zuvor eine entsprechend vorläufige Regelung nach § 165 Abs. 1 Satz 1 AO bestand. Daran fehlt es jedoch im Streitfall.
Das FG hat zutreffend eine Änderung des Gewinnfeststellungsbescheides 2008 wegen neuer Tatsachen oder Beweismittel abgelehnt. Nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO ist ein Steuerbescheid aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden.
Als grobes Verschulden hat der Steuerpflichtige Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu vertreten. Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Steuerpflichtige die ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten und Verhältnissen zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt hat. Nach der Rechtsprechung hat der Steuerpflichtige auch ein Verschulden seines steuerlichen Beraters, dessen er sich zur Ausarbeitung der Steuererklärung bedient, bei der Anfertigung der Steuererklärung zu vertreten; dabei werden an einen solchen Berater erhöhte Sorgfaltsanforderungen hinsichtlich der von ihm zu erwartenden Kenntnis und sachgemäßen Anwendung steuerrechtlicher Vorschriften gestellt.
Ob ein Beteiligter grob fahrlässig gehandelt hat, ist im Wesentlichen Tatfrage. Die hierzu getroffenen Feststellungen dürfen –abgesehen von zulässigen und begründeten Verfahrensrügen– von dem BFH nur daraufhin überprüft werden, ob der Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit und die aus ihm abzuleitenden Sorgfaltspflichten richtig erkannt worden sind und ob die Würdigung der Umstände hinsichtlich des individuellen Verschuldens den Denkgesetzen und allgemeinen Erfahrungssätzen entspricht. Bei Vorliegen ausreichender tatsächlicher Feststellungen ist auch das Revisionsgericht nicht gehindert, selbst zur Annahme eines groben Verschuldens zu gelangen
Bei Anwendung dieser Grundsätze hat das FG in nicht zu beanstandender Weise eine grobe Fahrlässigkeit angenommen. Denn aus dem Gewinnfeststellungsbescheid vom 15. April 2011 ergibt sich hinreichend klar, dass das FA den geltend gemachten Investitionsabzugsbetrag mangels Nachweises einer fast ausschließlich betrieblichen Nutzung des betreffenden PKW ablehnte. Der Eintritt der Bestandskraft hätte durch Einlegung eines Einspruchs verhindert werden müssen. Entgegen der Ansicht der Klägerin bestand auch keine Veranlassung, wegen eines aus diesem Grund bestehenden Vorläufigkeitsvermerks auf die Einlegung eines Einspruchs zu verzichten. Der Gewinnfeststellungsbescheid war insoweit auch nicht unklar. Jedenfalls für einen Angehörigen der steuerberatenden Berufe musste klar sein, dass die Bildung des Investitionsabzugsbetrags rückgängig gemacht wurde und die maßgebliche Frage der Voraussetzungen eines Investitionsabzugsbetrags nicht zu den Gründen gehörte, deretwegen der Bescheid für vorläufig erklärt wurde.
Da die Begründung der Rückgängigmachung des bisher gewährten Investitionsabzugsbetrags einerseits und die Begründung der in dem Bescheid enthaltenen Vorläufigkeitsvermerke andererseits hinreichend klar erkennbar und nicht missverständlich waren, kann das Verschulden der Klägerin bzw. ihres Vertreters an der Fristversäumnis auch nicht wegen einer eigenen Pflichtverletzung des FA unbeachtlich sein.