Abweichende Steuerfestsetzung bei außergewöhnlichen Belastungen

Aufwendungen i.S. des § 33 Abs. 1 EStG sind grundsätzlich in dem Veranlagungszeitraum zu berücksichtigen, in dem der Steuerpflichtige sie geleistet hat.
Eine abweichende Steuerfestsetzung nach § 163 AO ist atypischen Ausnahmefällen vorbehalten. Sie kommt nicht bereits dann in Betracht, wenn sich Aufwendungen im Veranlagungszeitraum der Verausgabung nicht in vollem Umfang steuermindernd ausgewirkt haben.

BFH Beschluss vom 12.07.2017 – VI R 36/15 BFH/NV 2017, 1380

Sachverhalt:

Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind verheiratet und werden zur Einkommensteuer zusammen veranlagt. Die im Jahr 2004 geborene Tochter der Kläger ist schwer- und mehrfachbehindert. Sie wird im Elternhaus gepflegt und betreut.

Der Gesamtbetrag der Einkünfte der Kläger betrug im Jahr 2010 XXX.XXX EUR, im Jahr 2011 XXX.XXX EUR, im Jahr 2012 XXX.XXX EUR und im Jahr 2013 XXX.XXX EUR.
Im Jahr 2011 bauten die Kläger ihr Haus für insgesamt 165.981 EUR behindertengerecht um. Sie errichteten angrenzend an das Wohnzimmer im Erdgeschoss und das darüber liegende Schlafzimmer einen 2-geschossigen Anbau mit einer Fläche von insgesamt ca. 27 qm und einem integrierten Lastenaufzug. In den beiden Räumen des Anbaus befinden sich der Zugang zum Lastenaufzug, ein mobiler Lifter, Rollstühle und Therapiegeräte sowie Regale und Schränke zur Aufbewahrung sonstiger für die Pflege benötigter Gegenstände. Der im Obergeschoss an den Anbau angrenzende Raum dient als Pflegezimmer und ist mit einem Spezialbett sowie einer Spezialbadewanne ausgestattet. Die Pflegeversicherung erstattete einen Betrag in Höhe von 2.557 EUR. Die Kläger bezahlten sämtliche mit dem Umbau zusammenhängenden Rechnungen im Jahr 2011.

In ihrer Einkommensteuererklärung für 2011 machten die Kläger Umbaukosten in Höhe von 60.000 EUR als außergewöhnliche Belastungen geltend und beantragten, den Restbetrag auf die folgenden beiden Veranlagungszeiträume zu verteilen. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt –FA–) führte die Einkommensteuerveranlagung erklärungsgemäß durch und setzte die Einkommensteuer für 2011 unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 der Abgabenordnung –AO–) auf 10.329 EUR fest. Wegen der außergewöhnlichen Belastungen wurde eine abgekürzte Außenprüfung durchgeführt. Der Prüfer berücksichtigte die Aufwendungen für die Errichtung des Anbaus, des behindertengerechten Bades und des Lastenaufzugs als außergewöhnliche Belastungen. Die Aufwendungen für die Neuanlage von Terrasse und Garten in Höhe von 25.368 EUR erkannte er zu 1/3 als außergewöhnliche Belastungen an. Im Anschluss an die Außenprüfung erging ein Einkommensteueränderungsbescheid für 2011, in dem außergewöhnliche Belastungen in Höhe von 149.069 EUR berücksichtigt wurden. Die Einkommensteuer wurde mit 0 EUR festgesetzt; der Vorbehalt der Nachprüfung wurde aufgehoben. Eine Verteilung der Aufwendungen auf mehrere Jahre lehnte das FA ab.

Gegen den Änderungsbescheid sowie die Ablehnung der Verteilung der Aufwendungen auf mehrere Jahre im Wege einer abweichenden Festsetzung aus Billigkeitsgründen legten die Kläger Einspruch ein. Am 12. April 2013 erging ein Teilabhilfebescheid, in dem weitere im Verlauf des Einspruchsverfahrens geltend gemachte Aufwendungen als außergewöhnliche Belastungen anerkannt und die bereits anerkannten Umbaukosten um die Erstattung in Höhe von 2.557 EUR auf 146.512 EUR vermindert wurden. Das Einspruchsverfahren wegen Einkommensteuer 2012 wurde bis zur Entscheidung über den Antrag auf abweichende Festsetzung der Steuer aus Billigkeitsgründen ausgesetzt. Mit Einspruchsentscheidung vom 30. April 2013 wies das FA den Einspruch gegen die Ablehnung des Antrags auf abweichende Festsetzung der Einkommensteuer aus Billigkeitsgründen als unbegründet zurück.

Mit der Klage begehrten die Kläger, das FA zu verpflichten, die Einkommensteuer 2011, 2012 und 2013 aus Billigkeitsgründen in Höhe der Beträge festzusetzen, die sich bei gleichmäßiger Verteilung der Umbaukosten ergäben, hilfsweise, die Umbaukosten zu gleichen Teilen in den Jahren 2010 und 2011 als außergewöhnliche Belastungen zu berücksichtigen. Das Finanzgericht (FG) wies die Klage aus den in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2015, 1207 veröffentlichten Gründen als unbegründet ab.
Mit der Revision rügen die Kläger die Verletzung materiellen Rechts. Die Kläger beantragen, das Urteil des FG Baden-Württemberg vom 23. April 2015 3 K 1750/13 aufzuheben und das FA unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 22. Oktober 2012 i.d.F. der Einspruchsentscheidung vom 30. April 2013 zu verpflichten, die Einkommensteuer für 2011, 2012 und 2013 in Höhe der Beträge festzusetzen, die sich ergeben, wenn die im Einkommensteuerbescheid 2011 berücksichtigten Umbaukosten zu gleichen Teilen in 2011 bis 2013 berücksichtigt werden; hilfsweise, das FA unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 22. Oktober 2012 i.d.F. der Einspruchsentscheidung vom 30. April 2013 zu verpflichten, die außergewöhnlichen Belastungen in 2010 und 2011 zu berücksichtigen; höchst hilfsweise, das FA zu verpflichten, über den Antrag auf abweichende Steuerfestsetzung erneut unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Begründung:
D
ie Entscheidung ergeht gemäß § 126a der Finanzgerichtsordnung (FGO). Der Senat hält einstimmig die Revision für unbegründet und eine mündliche Verhandlung für nicht erforderlich. Die Beteiligten sind davon unterrichtet worden und hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Revision der Kläger ist als unbegründet zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 FGO). Das FG hat die Voraussetzungen für eine abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen (§ 163 AO) zu Recht verneint.

Nach § 163 Abs. 1 Satz 1 AO können Steuern niedriger festgesetzt werden und einzelne Besteuerungsgrundlagen, die die Steuern erhöhen, bei der Festsetzung der Steuer unberücksichtigt bleiben, wenn die Erhebung der Steuer nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre. Mit Zustimmung des Steuerpflichtigen kann bei Steuern vom Einkommen zugelassen werden, dass einzelne Besteuerungsgrundlagen, soweit sie die Steuer erhöhen, bei der Steuerfestsetzung erst zu einer späteren Zeit und, soweit sie die Steuer mindern, schon zu einer früheren Zeit berücksichtigt werden (§ 163 Abs. 1 Satz 2 AO).
Die Entscheidung über einen Antrag auf abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen ist eine Ermessensentscheidung der Finanzverwaltung (§ 5 AO), bei der Inhalt und Grenzen des Ermessens durch den Begriff der Unbilligkeit bestimmt werden. Die Unbilligkeit kann sich aus persönlichen oder sachlichen Gründen ergeben.
Dass ein Fall der persönlichen Unbilligkeit vorliegt, wurde von den Klägern weder geltend gemacht noch ist dies sonst ersichtlich.

2. Im Streitfall liegt auch keine Unbilligkeit aus sachlichen Gründen vor.
a) Bei der Entscheidung über eine sachliche Billigkeitsmaßnahme ist auf den Einzelfall abzustellen. Sie ist atypischen Ausnahmefällen vorbehalten. Billigkeitsmaßnahmen dienen der Anpassung des steuerrechtlichen Ergebnisses an die Besonderheiten des Einzelfalls, um Rechtsfolgen auszugleichen, die das Ziel der typisierenden gesetzlichen Vorschrift verfehlen und deshalb ungerecht erscheinen. Sie gleichen Härten aus, die der steuerrechtlichen Wertentscheidung des Gesetzgebers nicht entsprechen und damit zu einem vom Gesetzgeber nicht gewollten Ergebnis führen Sachlich unbillig ist die Erhebung einer Steuer vor allem dann, wenn sie im Einzelfall nach dem Zweck des zugrunde liegenden Gesetzes nicht (mehr) zu rechtfertigen ist und dessen Wertungen zuwider läuft. Unbeachtet bleiben müssen hingegen grundsätzlich solche Erwägungen, die der gesetzliche Tatbestand typischerweise mit sich bringt. Auch dürfen Billigkeitsmaßnahmen nicht dazu führen, die generelle Geltungsanordnung des den Steueranspruch begründenden Gesetzes zu unterlaufen

Eine für den Steuerpflichtigen ungünstige Rechtsfolge, die der Gesetzgeber bewusst angeordnet oder in Kauf genommen hat, rechtfertigt keine Billigkeitsmaßnahme
Bei Heranziehung dieser Grundsätze ist das FA ermessensfehlerfrei zu dem Ergebnis gekommen, dass eine abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen nicht in Betracht kommt. Denn im Streitfall widerspricht die vorgenommene Besteuerung nicht den Wertungen des Gesetzes.

Erwachsen einem Steuerpflichtigen zwangsläufig größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse, gleicher Vermögensverhältnisse und gleichen Familienstands (außergewöhnliche Belastung), so wird auf Antrag die Einkommensteuer dadurch ermäßigt, dass der Teil der Aufwendungen, der die dem Steuerpflichtigen zumutbare Belastung (§ 33 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes –EStG–) übersteigt, vom Gesamtbetrag der Einkünfte abgezogen wird. Zwangsläufig erwachsen dem Steuerpflichtigen Aufwendungen dann, wenn er sich ihnen aus rechtlichen, tatsächlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann und soweit die Aufwendungen den Umständen nach notwendig sind und einen angemessenen Betrag nicht übersteigen (§ 33 Abs. 2 Satz 1 EStG).
Ziel des § 33 EStG ist es, zwangsläufige Mehraufwendungen für den existenznotwendigen Grundbedarf zu berücksichtigen, die sich wegen ihrer Außergewöhnlichkeit einer pauschalen Erfassung in allgemeinen Freibeträgen entziehen. Aus dem Anwendungsbereich des § 33 EStG ausgeschlossen sind dagegen die üblichen Aufwendungen der Lebensführung, die in Höhe des Existenzminimums durch den Grundfreibetrag abgegolten sind.

§ 11 Abs. 2 EStG ist auch auf außergewöhnliche Belastungen anwendbar (. Aufwendungen i.S. des § 33 Abs. 1 EStG sind danach grundsätzlich in dem Veranlagungszeitraum zu berücksichtigen, in dem der Steuerpflichtige sie geleistet hat Dies gilt unabhängig davon, ob sie aus eigenen oder fremden Mitteln bestritten werden Auch fremdfinanzierte Aufwendungen, die als außergewöhnliche Belastungen anzuerkennen sind, können nur im Jahr des tatsächlichen Abflusses, also der Verwendung der Darlehensmittel, berücksichtigt werden.
Wirken sich außergewöhnliche Belastungen in dem Veranlagungszeitraum, in dem sie geleistet werden, mangels eines hinreichenden Gesamtbetrags der Einkünfte nicht aus, sieht das Gesetz keine Möglichkeit vor, den restlichen Betrag in einen anderen Veranlagungszeitraum zu übertragen oder ähnlich der Regelung in § 82b der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung (EStDV) auf mehrere Veranlagungszeiträume zu verteilen. § 10d EStG gilt nur für Einkünfte, nicht aber für außergewöhnliche Belastungen oder Sonderausgaben. Ebenso fehlt eine § 7 EStG oder § 82b EStDV vergleichbare Regelung in § 33 EStG. Eine Gesetzeslücke, die eine analoge Anwendung des § 7 EStG, § 82b EStDV oder § 10d EStG nahelegen würde, liegt nicht vor. Aus der gesetzlichen Reihenfolge in § 10d Abs. 1 Satz 1 EStG, wonach negative Einkünfte vorrangig vor den Sonderausgaben, außergewöhnlichen Belastungen und sonstigen Abzugsbeträgen in den vorangegangenen Veranlagungszeitraum rückgetragen werden, lässt sich im Gegenteil im Einklang mit dem Gesetzeswortlaut in § 33 EStG der Grundsatz ableiten, dass derjenige, der keine positiven Einkünfte erzielt, auch keine privaten Aufwendungen abziehen kann, und zwar sowohl intra- als auch interperiodisch.

Streitfall hat sich nicht der gesamte Betrag, den die Kläger für den Umbau des Hauses aufgewendet haben, ausgewirkt, weil den Ausgaben im Jahr ihrer Verausgabung ein zu geringer Gesamtbetrag der Einkünfte gegenüberstand. Dies ist Folge der Entscheidung des Gesetzgebers für das in § 11 Abs. 2 EStG normierte Abflussprinzip in Verbindung mit dem Grundsatz der Abschnittsbesteuerung sowie dem Umstand, dass das Einkommensteuergesetz eine Verteilungsregel in andere Veranlagungszeiträume in einem solchen Fall nicht vorsieht.
Ein den gesetzlichen Wertungen widersprechendes Ergebnis ist darin nicht zu erblicken. Die Steuerunerheblichkeit von den Gesamtbetrag der Einkünfte überschreitenden außergewöhnlichen Belastungen ist vielmehr der einkommensteuerlichen Systematik, insbesondere der in § 2 EStG vorgegebenen Ermittlung des zu versteuernden Einkommens, geschuldet und kann daher in der Regel eine hiervon abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen nicht rechtfertigen.

Nach diesen Rechtsgrundsätzen ist die angefochtene Entscheidung nicht zu beanstanden. Denn das FA hat mit seiner Entscheidung über eine abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen die gesetzlichen Grenzen des Ermessens weder überschritten noch hat es von dem ihm eingeräumten Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht. Es hat auch nicht angenommen, ihm stehe eine Ermessensbefugnis nicht zu. Vielmehr hat das FA –ungeachtet der Vorgabe in R 33.4 der Einkommensteuer-Richtlinien 2012– eine eigenständige Ermessensentscheidung getroffen und sich mit den einschlägigen Rechtsgrundlagen auseinandergesetzt. An Anhaltspunkten für das Vorliegen von atypischen Besonderheiten, die ausnahmsweise eine abweichende Steuerfestsetzung aus rechtfertigen, fehlt es im Streitfall. Insbesondere stellt die Tatsache, dass die Aufwendungen durch einen Kredit finanziert wurden, keine Besonderheit dar, die eine Verteilung auf mehrere Jahre rechtfertigt. Vielmehr bleibt es auch bei kreditfinanzierten außergewöhnlichen Belastungen beim Abzug im Zeitpunkt der Verausgabung