Keine Änderung von Steuerbescheiden durch neue Tatsachen i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO wenn diese vorher bekannt waren

Hat der Steuerpflichtige dem Finanzamt den für die Besteuerung maßgeblichen Sachverhalt im Veranlagungsverfahren vollständig offen gelegt, handelt er nicht arglistig und bedient sich auch nicht sonstiger unlauterer Mittel i.S. des § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c AO, wenn er sich im Einspruchsverfahren weiterhin auf Angaben in der Lohnsteuerbescheinigung bezieht, denen nach Auffassung des FA eine unzutreffende rechtliche Würdigung des Arbeitgebers zugrunde liegt.

BFH Urteil vom 8.7.2015, VI R 51/14

Grobes Verschulden durch die unterlassene Mittelung entscheidungserheblicher Tatsachen innerhalb der Einspruchsfrist

Allein die unterlassene Mitteilung entscheidungserheblicher Tatsachen innerhalb der Einspruchsfrist kann ein grobes Verschulden am nachträglichen Bekanntwerden steuermindernder Tatsachen i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO begründen. Diese Frage stellt sich allerdings nur dann, wenn nicht schon vor Erlass des Bescheids ein grob schuldhaftes Fehlverhalten des Steuerpflichtigen vorgelegen hat

BFH Urteil vom 10.12.2013 – VIII R 10/11 BFHNV 2014 S. 820 ff.

Begründung:

Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH), dass für die Prüfung, ob dem Steuerpflichtigen der Vorwurf eines grob schuldhaften Verhaltens am nachträglichen Bekanntwerden von Tatsachen und Beweismitteln gemacht werden kann, nicht nur der Zeitraum bis zum Erlass des zu ändernden Bescheids, sondern auch der Zeitraum bis zum Eintritt der formellen Bestandskraft einzubeziehen ist.

Nach dieser Rechtsprechung ist ein grobes Verschulden hinsichtlich einer nachträglich bekannt gewordenen Tatsache anzunehmen, wenn der steuerlich beratene Steuerpflichtige oder dessen steuerlicher Berater es versäumen, den entscheidungserheblichen Sachverhalt der Finanzbehörde noch im Rahmen eines fristgerechten Einspruchs zu unterbreiten.

An dieser Rechtsprechung ist ungeachtet der im Schrifttum erhobenen Einwände festzuhalten.

Nach dem BFH-Urteil ist entscheidend für die Einbeziehung des Zeitraums nach Erlass des Steuerbescheids bis zum Ablauf der Einspruchsfrist “die Erwägung, daß bei Versäumung der Frist über die Einlegung eines Rechtsbehelfs, mit dem die Berücksichtigung sowohl neuer Tatsachen und Beweismittel als auch neuer rechtlicher Gesichtspunkte geltend gemacht werden kann, also auch nur einfachen Verschuldens gewährt werden. Würde ohne Rücksicht auf die Änderungsmöglichkeit eines Steuerbescheids im Einspruchs- oder Klageverfahren eine spätere Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 zugelassen, wäre ein schuldhaftes Verstreichenlassen der Einspruchs- oder Klagefrist bei allen ersichtlich falschen Steuerbescheiden bedeutungslos, falls den Steuerpflichtigen oder seinen steuerlichen Berater an der Nichtangabe des steuerlich bedeutsamen Sachverhalts bei der Abgabe der Steuererklärung kein grobes Verschulden getroffen hätte.” Ein solches Ergebnis ist vom Gesetzgeber nicht gewollt.

Zudem stellt sich die Frage, ob allein die unterlassene Einlegung eines Einspruchs ein grobes Verschulden am nachträglichen Bekanntwerden steuermindernder Tatsachen begründet, nur dann, wenn nicht schon vor Erlass des Bescheids ein grob schuldhaftes Fehlverhalten des Steuerpflichtigen vorgelegen. Somit besteht zwischen Pflichtverstößen des Steuerpflichtigen, die sowohl im Stadium bis zum Erlass eines Schätzungsbescheids als auch nach Erlass des Schätzungsbescheids bis zum Eintritt der formellen Bestandskraft eintreten, ein Rangverhältnis. Ein grob schuldhafter Pflichtverstoß i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO im ersten Verfahrensstadium  wirkt fort und überlagert einen gegebenenfalls nur leicht fahrlässigen oder weiteren grob schuldhaften Pflichtverstoß, dem FA nach Erlass des Steuerbescheids relevante Tatsachen oder Beweismittel nicht bis zum Ablauf der Einspruchsfrist mitgeteilt zu haben.

Es ist auf dieser Grundlage revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, dass das FG im Streitfall ein dem Kläger zurechenbares grobes Verschulden des steuerlichen Beraters allein darin gesehen hat, dem FA nicht bis zum Ablauf der Einspruchsfrist die ihm bekannten rechtserheblichen Tatsachen und Beweismittel übermittelt zu haben, die zu einer Änderung oder Aufhebung der Gewerbesteuermessbescheide für die Streitjahre hätten führen können.

Grobes Verschulden i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO ist Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit. Grobe Fahrlässigkeit ist anzunehmen, wenn der Steuerpflichtige die ihm nach seinen persönlichen Verhältnissen zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt. Ob der Steuerpflichtige unter den gegebenen Umständen grob schuldhaft gehandelt hat, ist im Wesentlichen eine vom FG zu entscheidende Tatfrage. Die hierzu getroffenen Feststellungen des FG können im Streitfall vom erkennenden Senat nur darauf überprüft werden, ob der Rechtsbegriff des groben Verschuldens richtig erkannt ist und ob die Würdigung der Verhältnisse hinsichtlich des individuellen Verschuldens den Denkgesetzen und Erfahrungssätzen entspricht.

Die Würdigung des FG, aufgrund der Nichtabgabe von Gewerbesteuererklärungen für die Streitjahre liege bereits ein grob schuldhaftes Verhalten des Klägers im Stadium vor Erlass der Schätzungsbescheide für die Streitjahre vor, wird vom Senat allerdings nicht geteilt. Zwar hat der Kläger im finanzgerichtlichen Verfahren für die Streitjahre zuletzt selbst angenommen, für bestimmte Tätigkeiten (Vermittlungsleistungen) in den Streitjahren auch einen von der selbständigen Tätigkeit abgrenzbaren Gewerbebetrieb unterhalten zu haben. Für den Verschuldensvorwurf i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO kann Anknüpfungspunkt der Prüfung aber nur das tatsächliche Vorstellungsbild des Klägers und des steuerlichen Beraters vor Erlass der streitbefangenen Gewerbesteuermessbescheide sein. Zu diesem Zeitpunkt gingen beide noch davon aus, der Kläger sei nicht gewerbesteuerpflichtig, sodass es nur konsequent war, keine Gewerbesteuererklärungen für die Streitjahre abzugeben. Der Kläger ist nach den Feststellungen des FG vom FA auch nicht zur Abgabe von Gewerbesteuererklärungen für die Streitjahre aufgefordert worden.

Mangels eines zurechenbaren grob schuldhaften Verhaltens des steuerlichen Beraters oder des Klägers vor Erlass der Schätzungsbescheide ist im Streitfall nach Maßgabe des BFH-Urteils entscheidungserheblich, ob den Kläger oder dessen steuerlichen Berater für das Verfahrensstadium nach Erlass der angefochtenen Gewerbesteuermessbescheide bis zum Ablauf der Einspruchsfrist der Vorwurf des groben Verschuldens trifft. Dies ist mit dem FG zu bejahen.

Die Würdigung des FG in der Vorentscheidung, der steuerliche Berater des Klägers habe gegen seine Sorgfaltspflichten verstoßen und allein deshalb grob schuldhaft gehandelt, weil er die ihm bekannten Umstände zum Vorliegen entweder einer insgesamt nicht gewerbesteuerbaren künstlerischen Tätigkeit oder einer abgrenzbaren geringfügigen gewerblichen Tätigkeit des Klägers dem FA nicht innerhalb der Einspruchsfrist übermittelt habe, ist eine mögliche, weder den Denkgesetzen noch den allgemeinen Erfahrungssätzen widersprechende Würdigung, an die der erkennende Senat nach § 118 Abs. 2 FGO gebunden ist. Dieses Verhalten muss der Kläger sich zurechnen lassen.

Denn nach den Feststellungen des FG kannte der steuerliche Berater des Klägers bei Erlass der Gewerbesteuermessbescheide für die Streitjahre wegen des nach der Außenprüfung und dem Einspruchsverfahren bereits anhängigen parallel laufenden Klageverfahrens für die Vorjahre alle maßgeblichen Umstände, Beweismittel und Argumente und hätte diese innerhalb der Einspruchsfrist gegen die Schätzungsbescheide für die Streitjahre ohne weiteres vorbringen können. Dies gilt sowohl für die Tatsachen und Beweismittel, aus denen das FA für die Streitjahre hätte ableiten können, der Kläger sei ausschließlich künstlerisch tätig als auch für diejenigen Tatsachen und Beweismittel, aus denen das FA hätte schließen können, der Kläger sei nur mit einem abgrenzbaren Gewerbebetrieb kleineren Umfangs gewerbesteuerpflichtig. Die Annahme des FG, es habe sich dem steuerlichen Berater angesichts des Verfahrensverlaufs für die Streitjahre und der Außenprüfung sowie des Einspruchs- und finanzgerichtlichen Verfahrens für die Vorjahre geradezu aufdrängen müssen, diese Umstände und Beweismittel innerhalb der Einspruchsfrist dem FA vorzutragen, weshalb dessen Unterlassen grob schuldhaft gewesen sei, ist nicht zu beanstanden.

Feststellung der Verfassungswidrigkeit eines Steuergesetzes durch das BVerfG – Kein rückwirkendes Ereignis und keine neue Tatsache

Die Änderung eines Steuerbescheids wegen nachträglich bekannt gewordener Tatsachen gemäß § 173 AO kommt nicht in Betracht, wenn das FA bei ursprünglicher Kenntnis der Tatsachen nicht anders hätte entscheiden können.

Die Feststellung der Verfassungswidrigkeit eines Steuergesetzes durch das BVerfG ist keine Tatsache i.S. von § 173 AO.




 

BFH Urteil vom 12. Mai 2009 IX R 45/08