Grobe Schätzungsfehler führen nicht zur Nichtigkeit eines Bescheides

Nach § 125 Abs. 1 AO ist ein Verwaltungsakt nichtig, wenn er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies außerdem bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommender Umstände offenkundig ist.

Selbst grobe Schätzungsfehler bei der Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen führen regelmäßig nur zur Rechtswidrigkeit und nicht zur Nichtigkeit des Schätzungsbescheides, und zwar selbst dann nicht, wenn sie auf einer Verkennung der tatsächlichen Gegebenheiten oder der wirtschaftlichen Zusammenhänge beruhen.

FG Köln 22.05.2014, Urteil 11 K 3056/11

Begründung:

Nach § 125 Abs. 1 AO ist ein Verwaltungsakt nichtig, wenn er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies außerdem bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommender Umstände offenkundig ist. Diese Voraussetzungen sind nur ausnahmsweise gegeben; in der Regel ist ein rechtswidriger Verwaltungsakt lediglich anfechtbar. Selbst grobe Schätzungsfehler bei der Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen führen regelmäßig nur zur Rechtswidrigkeit und nicht zur Nichtigkeit des Schätzungsbescheides, und zwar selbst dann nicht, wenn sie auf einer Verkennung der tatsächlichen Gegebenheiten oder der wirtschaftlichen Zusammenhänge beruhen. Ein schwerwiegender Fehler im Sinne des § 125 Abs. 1 AO liegt demgemäß vor, wenn die an eine ordnungsgemäße Verwaltung zu stellenden Anforderungen in einem so hohen Maße verletzt wurden, dass von niemandem erwartet werden kann, den ergangenen Verwaltungsakt als verbindlich anzuerkennen.

Eine Schätzung der Besteuerungsgrundlagen setzt nach § 162 AO voraus, dass die Finanzbehörde die Besteuerungsgrundlagen nicht ermitteln oder berechnen kann. Dies ist unter anderem der Fall, wenn Mitwirkungspflichten nicht erfüllt werden. Der Bundesfinanzhof hat in diesem Zusammenhang grundsätzlich festgestellt, dass eine Schätzung erst dann in Betracht kommt, wenn alle anderen Möglichkeiten, die zutreffenden Besteuerungsgrundlagen zu ermitteln, für das Finanzamt ausgeschöpft sind. Die Erzwingung der Abgabe der Steuererklärungen hat für das Finanzamt Vorrang gegenüber einer Schätzung der Besteuerungsgrundlagen.

Gleichwohl toleriert die Rechtsprechung die Vorgehensweise der Verwaltung, auf Zwangsmittel zu verzichten und die Besteuerungsgrundlagen zu schätzen. Dabei räumt sie der Verwaltung einen weiten Schätzungsrahmen ein und legt die Vorschriften über die Schätzung dahin gehend aus, dass Tatsachenfeststellungen mit einem geringeren Grad an Überzeugung getroffen werden, als dies in der Regel nach § 88 AO geboten ist. Der Grad der noch erforderlichen Gewissheit wird in der Weise reduziert, dass der Sachverhalt aufgrund von Wahrscheinlichkeitserwägungen festgestellt werden darf und Behörde und Gericht sich hinsichtlich nicht feststehender Tatsachen über gegebene Zweifel hinwegsetzen können. Das gewonnene Schätzungsergebnis muss nur schlüssig, wirtschaftlich möglich und vernünftig sein und feststehende Tatsachen berücksichtigen. Um das Anfechtungserfordernis im Interesse der Rechtssicherheit nicht zu beeinträchtigen, wird eine Schätzung, die den durch die Umstände des Falles gezogenen Schätzungsrahmen verlässt, grundsätzlich nur als rechtswidrig angesehen und muss angefochten werden, wenn sie nicht in Bestandskraft erwachsen soll. Gerechtfertigt wird dies auch damit, dass ein Akt der staatlichen Gewalt die Vermutung seiner Gültigkeit in sich.

Anders verhält es sich nur, wenn das Finanzamt bewusst und willkürlich zum Nachteil des Steuerpflichtigen schätzt. Willkürlich und damit nichtig im Sinne des § 125 Abs. 1 AO ist ein Schätzungsbescheid nicht nur bei subjektiver Willkür des handelnden Bediensteten. Auch wenn das Schätzungsergebnis trotz vorhandener Möglichkeiten, den Sachverhalt aufzuklären und die Schätzungsgrundlagen zu ermitteln, krass von den tatsächlichen Gegebenheiten abweicht und in keiner Weise erkennbar ist, dass überhaupt und gegebenenfalls welche Schätzungserwägungen angestellt wurden – wenn somit ein “objektiv willkürlicher” Hoheitsakt vorliegt – ist eine Nichtigkeit im Sinne von § 125 Abs. 1 AO gegeben. Denn in einem solchen Fall ist davon auszugehen, dass die Schätzung nicht mehr mit der Rechtsordnung und den diese Ordnung tragenden Prinzipien in Einklang steht, da das Finanzamt grundsätzlich gehalten ist, diejenigen Erkenntnismittel, deren Beschaffung und Verwertung ihm zumutbar und möglich gewesen wäre, auszuschöpfen. Selbst wenn derartige Erkenntnismöglichkeiten und auch andere geeignete Anhaltspunkte für die Schätzung fehlen, muss es Ziel der Schätzung sein, die Besteuerungsgrundlagen annähernd zutreffend zu ermitteln. Die Schätzung darf nicht dazu verwendet werden, die Steuererklärungspflichtverletzung zu sanktionieren und den Kläger zur Abgabe der Erklärungen anzuhalten. Strafschätzungen gilt es zu vermeiden.

Nichtigkeit eines Schätzungsbescheides

Für den Bereich der Schätzung von Besteuerungsgrundlagen kann eine Nichtigkeit der Schätzungsbescheide nur angenommen werden, wenn ein schwerer Fehler bei der Rechtsanwendung vorliegt.

BFH Beschluss vom 4.6.2014, X B 95/13

Begründung:

Wird eine Schätzung erforderlich, weil die Ordnungsmäßigkeit der Buchführung nicht mehr gegeben ist, kann sich das Finanzamt an der oberen Grenze des Schätzungsrahmens orientieren, weil der Steuerpflichtige möglicherweise Einkünfte verheimlichen will.

Verlässt eine überzogene Schätzung diesen Rahmen, hat dies im Allgemeinen nur die Rechtswidrigkeit der Schätzung, nicht aber bereits deren Nichtigkeit zur Folge. Nichtigkeit ist selbst bei groben Schätzungsfehlern, die auf einer Verkennung der tatsächlichen Gegebenheiten oder der wirtschaftlichen Zusammenhänge beruhen, regelmäßig nicht anzunehmen.

Etwas anderes ist nach der Rechtsprechung allenfalls dann zu erwägen, wenn sich das Finanzamt nicht nach dem Auftrag des § 162 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO) an den wahrscheinlichen Besteuerungsgrundlagen orientiert, sondern bewusst zum Nachteil des Steuerpflichtigen geschätzt hat. Willkürmaßnahmen, die mit den Anforderungen an eine ordnungsmäßige Verwaltung schlechterdings nicht zu vereinbaren sind, können einen besonders schweren Fehler i.S. von § 125 Abs. 1 AO abgeben

Nichtigkeit eines Schätzungsbescheides

Grobe Schätzungsfehler bei der Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen führen regelmäßig nur zur Rechtswidrigkeit und nicht zur Nichtigkeit des Schätzungsbescheides. Anders verhält es sich allerdings, wenn das FA bewusst und willkürlich zum Nachteil des Steuerpflichtigen schätzt.

BFH Beschluss vom 12.12.2013-XB 205/12 BFHNV 2014 S. 490

Begründung:

Der Kläger trägt vor, das FG habe willkürlich entschieden, indem es die Gewinnschätzungen des Beklagten und Beschwerdegegners (Finanzamt –FA–) gebilligt habe, obwohl diese gegen alle Erfahrungsgrundsätze und Denkgesetze verstießen. Das FA habe für das Jahr 2002 bei einem Umsatz von … EUR einen Gewinn in Höhe von … EUR und für das Jahr 2003 bei einem Umsatz in Höhe von … EUR einen Gewinn von … EUR geschätzt. Dieser Schätzung lägen keinerlei Parameter für mögliche Gewinnaufschläge eines Händlers und Bauhandwerkers, der Holzhäuser liefere und aufstelle, zugrunde.

Ein solcher Fehler liegt jedoch nicht vor, denn das FG hatte im Streitfall nicht die Rechtswidrigkeit, sondern die Nichtigkeit der Schätzungsbescheide zu beurteilen.

Wird eine Schätzung erforderlich, weil der Steuerpflichtige –wie im Streitfall– seiner Erklärungspflicht nicht genügt, kann sich das FA an der oberen Grenze des Schätzungsrahmens orientieren, weil der Steuerpflichtige möglicherweise Einkünfte verheimlichen will. Verlässt eine überzogene Schätzung diesen Rahmen, hat dies im Allgemeinen nur die Rechtswidrigkeit der Schätzung, nicht aber bereits deren Nichtigkeit zur Folge. Nichtigkeit ist selbst bei groben Schätzungsfehlern, die auf einer Verkennung der tatsächlichen Gegebenheiten oder der wirtschaftlichen Zusammenhänge beruhen, regelmäßig nicht anzunehmen. Etwas anderes ist nach der Rechtsprechung allenfalls dann zu erwägen, wenn sich das FA nicht nach dem Auftrag des § 162 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO) an den wahrscheinlichen Besteuerungsgrundlagen orientiert, sondern bewusst zum Nachteil des Steuerpflichtigen geschätzt hat. Willkürmaßnahmen, die mit den Anforderungen an eine ordnungsmäßige Verwaltung schlechterdings nicht zu vereinbaren sind, können einen besonders schweren Fehler i.S. von § 125 Abs. 1 AO abgeben.

Im Streitfall hat der Kläger keinerlei Gründe vorgetragen, die die Annahme rechtfertigen würden, das FA habe die Besteuerungsgrundlagen bewusst zu seinem Nachteil geschätzt.

Nichtigkeit von Schätzungsbescheiden

Steuerbescheide sind nichtig, wenn das Finanzamt die Grundordnung des Verfahrens so verletzt, dass der Steuerpflichtige nicht von der Verbindlichkeit der festgesetzten Steuer auszugehen kann.

Dieses ist insbesondere dann der Fall, wenn die Schätzung nicht plausibel ist und die Höhe der geschätzten Steuerlast nur als Druckmittel für eine Beschleunigung des Verfahrens verwendet wird.

Finanzgericht München, Urteil vom 4. September 2008 2 K 1865/08 – rechtskräftig, EFG 2009 S. 2 ff.

Begründung:
Die Schätzung des Finanzamt ist nicht nachvollziehbar. Bezogen auf die wirtschaftlichen Verhältnisse des Steuerpflichtigen weicht das Schätzungsergebnis krass von den tatsächlichen Verhältnissen ab. Es ist nicht erkennbar, dass das Finanzamt irgendwelche Überlegung zur Schätzung der Besteuerungsgrundlagen vorgenommen hat.

Die vorgeschriebene Dokumentation der Schätzung befindet sich in den Akten. Es fhelen Aufzeichnungen über die Höhe der zu erwartenden Umsätze und Gewinne.

Die Schätzung erfolgte nicht mit dem Ziel die tatsächliche Besteuerungsgrundlagen zu erfassen, sondern anhand von willkürlich ermittelten Zahlen sollte der größtmögliche Druck auf den Steuerpflichtigen ausgeübt werden.

Der fehlende Antrag aus Pauschalierung führt nicht zu Nichtigkeit des Lohnsteuerbescheides

Ein nach § 40 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ergangener Lohnsteuer-Pauschalierungsbescheid ist nicht deshalb nichtig, weil der Arbeitgeber keinen Pauschalierungsantrag gestellt hat.
( BFH Urteil vom 7. Februar 2002 VI R 80/00)

Anmerkung:

Der fehlende Antrag auf Pauschlierung führt aber nach Anfechtung des Lohnsteuerbescheides zu einer Aufhebung der Pauschalsteuer. Ein Versäumen der Anfechtungsfrist durch Einspruch innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe kann nicht mit dem Hinweis “der Bescheid ist nichtig” geheilt werden.