Das Gericht darf eine von der Finanzbehörde vorgenommene Steuerfestsetzung nicht zum Nachteil des Steuerpflichtigen ändern (Verböserungsverbot).
Erklärt sich das FA in der mündlichen Verhandlung mit einer niedrigeren Festsetzung einverstanden, ändert es den Bescheid aber nicht, bleibt der Bescheid Maßstab des Verböserungsverbots.
Gelangt das FG zu einer höheren Festsetzung als sie dem Einverständnis des FA entspräche, so liegt nicht allein deshalb eine Überraschungsentscheidung vor.
Die Sachaufklärungspflicht des FG wird durch die Mitwirkungspflicht der Beteiligten begrenzt. Drängten sich für den beratenden Beteiligten Angaben zur Sache auf, kann er nicht mit Erfolg geltend machen, das FG habe seine diesbezügliche Ermittlungspflicht verletzt.
BFH Beschluss vom 10.03.2016 – X B 198/15 (NV) BFH/NV 2016, 1042 |
Begründung:
,Das sogenannte Verböserungsverbot (Verbot der reformatio in peius), das teilweise aus § 96 FGO, jedenfalls aber aus Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3 GG hergeleitet wird und in der Sache unstreitig ist, besagt, dass das Gericht eine von der Finanzbehörde vorgenommene Steuerfestsetzung nicht zum Nachteil des Steuerpflichtigen ändern, mithin keine höhere Steuerfestsetzung vornehmen darf.
Dies hat das FG befolgt. Es hat die Einkommensteuerfestsetzungen, wie sie von der Erhebung der Klage bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung Gegenstand des Verfahrens waren, weder im Tenor seiner Entscheidung noch in der Begründung zu deren Lasten geändert, sondern es bei den seitens des FA angesetzten positiven Einkünften aus Gewerbebetrieb der Klägerin in Höhe von jeweils 5.000 EUR belassen.
Hieran ändert auch der Umstand nichts, dass das FA den Klageabweisungsantrag über den Zusatz “soweit” auf die Nichtberücksichtigung negativer Einkünfte beschränkt und sich mit dem Ansatz der Einkünfte der Klägerin aus Gewerbebetrieb mit 0 EUR einverstanden erklärt hatte. Nach dem Vorstehenden ist die angefochtene Steuerfestsetzung, nicht aber der vom FA gestellte Antrag, Maßstab des Verböserungsverbots.
Der Antrag ist auch nicht in der Weise auszulegen, dass das FA damit konkludent die Bescheide geändert hätte, dies ungeachtet der Frage, ob eine derartige Auslegung grundsätzlich möglich wäre. Das FA hatte im Vorfeld die ausdrückliche Nachfrage des FG, ob es einen Änderungsbescheid etwa im Sinne der betriebsnahen Veranlagung erlassen habe, ebenso ausdrücklich verneint. Allerdings hätte die Begründung, es liege nach fortbestehender Auffassung des FA keine Gewinnerzielungsabsicht vor, auch eine Änderung des Bescheids nahegelegt, nur nicht im Sinne eines Verlusts, wie die Kläger begehren, sondern im Sinne von Einkünften von 0 EUR. Trotzdem hat das FA gerade keinen Änderungsbescheid erlassen und ersichtlich nicht erlassen wollen. Dann aber wäre es eine Auslegung gegen den erkennbaren Willen des FA, die Antragsfassung in der mündlichen Verhandlung, die lediglich den vorherigen Vortrag inhaltlich fortsetzt, als Änderung des Bescheids zu werten.
Die Entscheidung des FG, positive Gewinne von jeweils 5.000 EUR anzunehmen, mag die Kläger subjektiv überrascht haben, nachdem das FA signalisiert hatte, mit Einkünften von 0 EUR einverstanden zu sein. Aber bei besonnener Betrachtung der materiell-rechtlichen und verfahrensrechtlichen Situation mussten die Kläger mit einem solchen Urteil als einem von mehreren denkbaren Verfahrensausgängen rechnen. Das FA hat, indem es zwar die Gewinnerzielungsabsicht bestritten, die Bescheide aber trotzdem nicht geändert hat, die Entscheidungsmöglichkeit des FG für eine Schätzung bis hin zu einem positiven Gewinn von 5.000 EUR offengehalten, weil das Verböserungsverbot nicht greift. Die Prozessführung des FA ist mit diesem Bestreben nicht nur zu erklären, sondern regelrecht durchsichtig. Dann aber konnte es nicht überraschen, wenn das FG den ihm gebotenen Spielraum auch nutzte.
Solange das FA den Bescheid nicht änderte, war für alle Verfahrensbeteiligten klar, dass damit der positive Gewinn von 5.000 EUR als äußerste Grenze der Entscheidung weiter im Raum stehen blieb. Der Bevollmächtigte der Kläger hatte den Schriftsatz des FA, mit dem dieses die Änderung des Bescheids ausdrücklich ablehnte, zur Kenntnis erhalten. Auch in der mündlichen Verhandlung änderte das FA die Bescheide nicht.
Diese Verfahrensweise ist nicht etwa in sich widersprüchlich oder übervorteilte die Kläger in unangemessener Weise, so dass es hätte überraschend sein können, wenn das FG sich darauf einlässt. Vielmehr spiegelt die Verfahrensweise den materiell-rechtlichen Sach- und Streitstand wider. Die Frage, ob die Klägerin ein Gewerbe mit Gewinnerzielungsabsicht betrieben hatte, war bis zum Schluss streitig geblieben. Das FA hatte zwar die Auffassung vertreten, es habe an der Gewinnerzielungsabsicht gefehlt, so dass der Ansatz gewerblicher Einkünfte bei der Klägerin von 0 EUR folgerichtig gewesen wäre. Es konnte aber nicht wissen, ob das FG seiner Auffassung folgen würde, was im Ergebnis ja auch nicht geschah. Wenn aber schon fraglich war, ob das FG nicht möglicherweise doch von Gewinnerzielungsabsicht ausgehen würde, konnte angesichts der insgesamt spärlichen Erkenntnisse über die tatsächlichen Verhältnisse erst recht niemand vorhersehen, welchen –positiven oder negativen– Gewinn in welcher Höhe das FG annehmen würde. Insoweit war alles möglich. Hätte das FA einen seiner Auffassung zur Gewinnerzielungsabsicht entsprechenden Änderungsbescheid erlassen, in dem es den geschätzten Gewinn reduziert und die Einkünfte der Klägerin aus Gewerbebetrieb mit 0 EUR angesetzt hätte, so wären damit die Schätzungsmöglichkeiten des FG auf die Spanne zwischen 0 EUR und dem seitens der Kläger beantragten Verlust von 20.806 EUR (für 2006) bzw. 20.208 EUR (2007) reduziert worden. Das FA hätte durch eine derartige Bescheidänderung im Vorgriff den Entscheidungsspielraum des FG prozessual einseitig zu seinen Lasten verengt. Dazu hatte es keinen Anlass.
Es war daher erkennbar folgerichtig, zwar den Antrag so zu formulieren, wie es dessen Überzeugung entsprach, aber im Übrigen für den Fall, dass das FG seiner Auffassung nicht folgen würde, quasi hilfsweise die angefochtenen Bescheide im Raum stehen zu lassen.
Eine Überraschung folgt auch nicht aus den Ausgangsgrößen für die Vollschätzung, die das FG gewählt hat. Es trifft nicht zu, dass die Betriebsausgaben unstreitig höher gewesen wären als das FG sie angenommen hat. Nichts war unstreitig. Insbesondere hat das FA die Höhe der Reisekosten, die in der Gewinnermittlung der Klägerin die größte Ausgabenposition darstellten, nicht unstreitig gestellt. Den in der betriebsnahen Veranlagung ermittelten Verlust hat es sich nicht zu eigen gemacht, wozu es auch nicht verpflichtet ist. Das zeigt sich bereits daran, dass zwar die betriebsnahe Veranlagung die von der Klägerin angegebene Fahrleistung von 91 873 km p.a. zugrunde gelegt, das FA diese aber im Rahmen des Prozesses bestritten hat. Zudem geben die Kläger mit ihrem Antrag für das Jahr 2007, einen ähnlichen Prozentsatz des zuvor erklärten Verlusts wie im Jahre 2006 anzuerkennen, selbst zu erkennen, dass ihre Gewinnermittlungen nicht richtig sind. Die betriebsnahe Veranlagung für 2006 hatte einzelne Positionen erheblich geändert, andere gar nicht. Der Prozentsatz, um den die betriebsnahe Veranlagung den Verlust minderte, war mithin ein Durchschnittswert. Wenn die Kläger pauschal den Verlust für das Jahr 2007 prozentual mindern, entziehen sie damit sämtlichen Einzelpositionen die Grundlage.
Ähnliches gilt für die Höhe der Einnahmen. Die im Klageverfahren eingereichten Gewinnermittlungen wiesen immerhin Einnahmen von netto 5.903,80 EUR bzw. 7.883,15 EUR aus. In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin hingegen erklärt, sie habe in den beiden Jahren ihres Geschäftsbetriebs nur insgesamt drei Geräte verkauft, wobei nach Auskunft ihres Geschäftspartners jedes Gerät einen Gewinn von 1.000 EUR einbringen sollte, ohne dass feststellbar wäre, ob dieser Wert alle Betriebskosten der Klägerin einbezogen hatte, die der Geschäftspartner nicht kennen kann. Schließlich weist bereits das Erlöskonto für das Jahr 2006 fünf Buchungen mit vier verschiedenen Geschäftspartnern auf. Selbst wenn die beiden Buchungen für denselben Geschäftspartner zwei Zahlungen für dasselbe Geschäft darstellen sollten, hätte es in diesem Jahr immer noch vier verschiedene Geschäftsvorfälle mit vier Kunden gegeben.
Nachdem die Angaben der Kläger in mehrerer Hinsicht nicht miteinander zu vereinbaren waren, drängte sich eine Vollschätzung ersichtlich auf. Es durfte die Kläger nicht überraschen, dass das FG dabei bei Einnahmen und Ausgaben von Annahmen ausging, die für die Kläger ungünstig waren. Dies ist einer Schätzung, zu der der Steuerpflichtige nach § 162 Abs. 2 der Abgabenordnung Anlass gegeben hat, immanent.
Hinsichtlich des gerügten Verstoßes gegen die Sachaufklärungspflicht aus § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO ist die Beschwerde unzulässig. Wird ein Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht mit der Begründung gerügt, das FG hätte auch ohne entsprechenden Beweisantritt von Amts wegen den Sachverhalt weiter aufklären müssen, sind nach ständiger Rechtsprechung des BFH Ausführungen dazu erforderlich, welche Beweise das FG von Amts wegen hätte erheben bzw. welche Tatsachen es hätte aufklären müssen, aus welchen Gründen sich ihm die Notwendigkeit einer Beweiserhebung auch ohne Antrag hätte aufdrängen müssen, welche entscheidungserheblichen Tatsachen sich bei einer Beweisaufnahme voraussichtlich ergeben hätten und inwiefern die Beweiserhebung auf der Grundlage des materiell-rechtlichen Standpunkts des FG zu einer anderen Entscheidung hätte führen können. War der Kläger bereits vor dem FG sachkundig vertreten, hat er zusätzlich darzulegen, weshalb er nicht schon vor dem Tatsachengericht die Erhebung weiterer Beweise beantragt. An alledem fehlt es bereits. Zudem begrenzt die Mitwirkungspflicht der Beteiligten die Amtsermittlungspflicht. Daher kann die Sachaufklärungsrüge nicht dazu dienen, Ermittlungen vom FG zu verlangen, die sich jedenfalls für einen beratenen Beteiligten in der Weise aufdrängen, dass dieser die fehlenden Angaben selbst beschaffen könnte So liegt es hier. Bevor das FG überhaupt in nähere Ermittlungen zu der Höhe der Einnahmen und Ausgaben eintreten musste, oblag es den Klägern, konsistente Angaben dazu zu machen. Aus den genannten Gründen fehlte es daran. Die Kläger haben nicht dargestellt, warum sie dazu nicht in der Lage gewesen sein sollten.